Racheengel
eine Kette?«
»Ein Kreuz«, sagte Rasa.
Herkus drückte seine Zigarette im trockenen Kompost der Topfpflanze aus. Dann stand er auf, schaute sich im Zimmer um und entdeckte auf dem Couchtisch einen Umschlag und einen Kugelschreiber. Er brachte ihr beides.
»Zeichne den Mann«, verlangte er.
Sie starrte ihn fassungslos an.
Herkus drückte Rasa den Kugelschreiber und das Stück Papier in die Hand. »Du kannst doch zeichnen. Hab ich oft genug gesehen. Mal ein Bild von ihm.«
Sie dachte einen Moment nach, dann kritzelte sie etwas auf den Umschlag.
Mit groben Strichen zeichnete sie ein rundes Gesicht, dichtes Haar und genau den Bart, wie sie ihn beschrieben hatte. Herkus hatte keine Ahnung, ob das Bild dem Mann wirklich ähnlich sah, aber grundsätzlich war es keine schlechte Skizze. Bevor Rasa Litauen den Rücken gekehrt hatte, hatte sie in der Modebranche gearbeitet und eigentlich hier auch wieder daran anknüpfen wollen, vielleicht sogar als Designerin. Stattdessen war sie ein Glied in der Nachschubkette für junge Mädchen geworden. Und soweit Herkus es beurteilen konnte, war das noch nicht einmal unbedingt ein Berufswechsel.
Er nahm ihr den Umschlag ab. »Sieht es ihm ähnlich?«
»Soweit ich mich erinnern kann.«
Er zeigte auf die über eine Augenbraue verlaufende Linie und fragte: »Was ist das da?«
»Er hat eine Narbe«, sagte sie. »Ein hässlicher Mann.«
Herkus stopfte den Umschlag in seine Brusttasche. »Und wer ist der Dealer, zu dem du mich schickst?«
»Sein Name ist Jim Pollock«, sagte Rasa. »Ich kaufe nur bei ihm. Er macht mir einen guten Preis.«
»Weiß er, dass ich komme?«
»Ich habe ihn sofort nach unserem Gespräch angerufen. Warum?«
»Nur so«, sagte Herkus.
Er drehte sich um und ging zur Tür.
Sie rief ihm nach: »Und wie geht es Arturas?«
Herkus blieb stehen. »Er ist ein wenig angegriffen«, sagte er.
»Ist er wütend?«, fragte sie.
»Natürlich.«
Rasa stand auf und trat zu ihm. »Ich meine, ist er wütend auf mich? Weil ich sie ausgesucht habe? Gibt er mir die Schuld?«
Herkus studierte die Falten in ihrem Gesicht und ihre Hautfarbe und stellte sich vor, wie wunderschön sie in ihrer Jugend wohl gewesen sein musste. Er spürte ein kurzes Stechen in der Brust. Das musste wohl Traurigkeit sein.
»Arturas ist wütend auf alles«, sagte er. »Er ist wütend auf mich. Er ist wütend auf seinen Bruder. Er ist sogar wütend auf die Luft, die er einatmet.«
Sie nahm einen langen Zug aus ihrer Zigarette, und er registrierte, wie ihre Hand zitterte.
»Hör mal«, sagte er, »vielleicht solltest du lieber eine Weile abhauen. Die Weihnachtstage woanders verbringen. Wenn du dich beeilst, kriegst du vielleicht noch für heute Nachmittag einen Flug. Oder du könntest auch über die Grenze. Ganz egal, Hauptsache, du verschwindest hier ein paar Tage.«
Sie nickte und schenkte ihm ein verhuschtes Lächeln. »Ja. Das ist eine gute Idee. Vielleicht mache ich das.«
Er ging und ließ sie in ihrer unaufgeräumten Wohnung allein. Eine Frau wie sie, dachte er, sollte inzwischen verheiratet sein und schon fast erwachsene Kinder haben. Vielleicht sogar eine junge Großmutter sein. Nicht in irgendeiner Stadt am Ende der Welt wohnen und Frischfleisch an irgendwelchen Abschaum verkaufen, der mit so etwas sein Geld verdiente.
Vor fünf Jahren war Mitleid für Herkus Katilius noch ein unbekanntes Gefühl gewesen. Aber in letzter Zeit spürte er es immer öfter, genau wie die Schmerzen in seinen Knien und im Kreuz.
»Ich werde alt«, sagte er zu sich selbst, als er den Mercedes aufschloss und einstieg.
Herkus fuhr über die Albert Bridge nach Osten, in Richtung Sydenham. Der Verkehr wurde dichter. Im Schneckentempo krochen die Autofahrer über den Schneematsch und das festgefahrene Eis. Er folgte den Anweisungen des Navigationssystems bis zu einer neu erbauten Wohnanlage, die sich um einen kleinen Platz herum gruppierte und eher aussah wie eine Schule oder eine Klinik als ein Ort zum Leben.
Rasas Wohnung in ihrer ruhigen Straße gefiel ihm besser als diese Ansammlung von Quadraten und Dreiecken. Aber egal, er musste ja nicht lange bleiben, nur schnell den Stoff kaufen und wieder gehen.
Die Scheinwerfer des Mercedes blinkten auf, als Herkus den Wagen verschloss. Gegen die Kälte klappte er den Kragen hoch und stopfte die Hände in die Taschen. Mehrere übereinander verlaufende Spuren im Schnee deuteten an, wo der Fußpfad zum Eingang des Gebäudes entlanglief.
Auf einer Metalltafel
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