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Racheengel

Racheengel

Titel: Racheengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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befand sich eine Reihe symmetrisch angeordneter Klingelknöpfe. Der Frost hatte sie mit einer eisigen Schicht überzogen. Herkus suchte die Klingel für die Wohnungsnummer, die Rasa ihm gegeben hatte, und drückte mit dem Daumen darauf.
    Keine Antwort.
    Er drückte noch einmal.
    Eine blecherne Stimme knisterte: »Was gibt es?«
    »Spreche ich mit Pollock?«, fragte Herkus.
    »Wer will das wissen?«
    »Rasa schickt mich«, sagte Herkus. »Ich will Stoff kaufen.«
    Eine Pause. Dann: »Wer hat dich wegen was geschickt?«
    »Rasa«, wiederholte Herkus. »Sie hat mir erzählt, sie hat schon öfter bei dir gekauft. Sie sagt, du machst einen guten Preis.«
    »Ich kenne keine Rasa«, sagte die Stimme. »Und jetzt verzieh dich.«
    Selbst durch den winzigen Lautsprecher erkannte Herkus Angst, wenn er sie hörte. Die Stimme hatte dann etwas Schrilles, die Brüchigkeit unterdrückter Panik.
    Aber warum?
    Gebremst vom Schlafmangel, drehten sich die Rädchen in seinem Hirn zu langsam, aber schließlich griffen sie doch noch. Die Erkenntnis löste einen Adrenalinschub aus, der ihm in sämtliche Glieder strömte. Sein Instinkt übernahm die Regie. Herkus wirbelte an der Tür herum und ließ sich flach auf den Boden fallen, da sprang ihn der Angreifer auch schon mit vorgerecktem Messer an.
    Ohne noch abbremsen zu können, flog der Mann heran. Herkus’ Schulter krachte in dessen Magengrube, und der Mann ächzte, als ihm die Luft aus den Lungen gepresst wurde.
    Der Schnee federte den Sturz des Mannes ab. Für einen kurzen Moment konnte Herkus in das ihm zugewandte Gesicht blicken, dann trat er mit dem Hacken hinein.
    Mark Mawhinney sackte zurück, seine Lippe schwoll bereits an. Die Klinge entglitt seinen Fingern, ein Messer, das aussah, als hätte er es sich in der Küche seiner Mutter besorgt. Er spuckte und hustete, Blut sprühte auf den weißen Schnee.
    Als er sich wieder hochzurappeln versuchte, trat Herkus ihmmitten in die Weichteile. Mawhinney rollte sich auf die Seite, zog die Knie an und winselte wie ein verhungernder Hund.
    »Nicht aufstehen«, befahl Herkus auf Englisch. »Dein Bruder war ein dummer Mensch. Jetzt ist er tot. Wenn du klug bist, bleibst du da unten und am Leben.«
    Mawhinney krümmte sich im Schnee und keuchte durch die aufgeplatzten Lippen. »Du Scheißkerl«, presste er hervor. Tränen quollen ihm aus den Augen. »Du verdammter Scheißkerl … Sam hat doch gar nichts gemacht … kein Grund … so was zu tun … Scheißkerl.«
    Herkus hockte sich neben ihn und nahm das Messer aus dem Schnee. Er richtete die Klinge auf Mawhinney. »Sam hat zugelassen, dass die Hure Tomas umbringt«, sagte er. »Glaubst du etwa, Arturas vergisst das so einfach? Wenn du von hier verschwindest, dann kann es sein, dass Arturas dich vergisst. Jetzt geh.«
    Mawhinney rollte sich auf den Bauch, drückte sich auf die Knie hoch und kroch los. Ein roter Spuckefaden hing von seinem Mund bis zur Erde und zog hinter ihm seine Spur.
    Herkus stand auf. Er zog ein Taschentuch aus der Tasche, wischte den Griff ab und warf das Messer auf dem Rückweg zum Mercedes in den Schnee. Als er den Wagen erreichte, meldete sich der Schmerz in seiner Schulter. Er blieb stehen, ließ den Arm kreisen und spürte, wie die Sehnen und Muskeln protestierten.
    »Ich werde alt«, sagte er noch einmal.
    Mark Mawhinney hatte ihn verletzen, womöglich töten wollen. Und hätte Herkus nicht rechtzeitig reagiert, wäre es ihm vielleicht sogar gelungen.
    Diese irischen Brüder hätten die Sache verbockt, hatte Rasa gesagt. Sie hätten zu früh versucht, das Mädchen anschaffen zu lassen. Es war ihre Schuld. Und Arturas würde dasselbe sagen.
    Herkus sah über die Schulter.
    Mark hatte die Hauswand erreicht. Er klammerte sich an eine Fensterbank und versuchte sich hochzuziehen,
    »Scheiße«, sagte Herkus.
    Er machte kehrt und marschierte mit griffbereiten Händen auf den anderen zu.

22
    Dunkelheit und Licht, Freude und Angst wechselten sich in ihren Träumen ab. Galya war wieder Kind, und ihr Großvater hielt ihre Hand in seiner eigenen. Die Haut des alten Mannes war rau und rissig, er roch nach Tabak. In der Nähe ihres Heimatortes unweit der russischen Grenze liefen sie auf einem Weg in den dunklen Wäldern. Aus den Wipfeln beobachteten sie wilde Kreaturen.
    Weiter vorn sah sie etwas, das aussah wie ein kleines Mädchen mit strohblonden Haaren. Sie beschleunigte ihren Schritt und versuchte angestrengt, die Gestalt besser zu erkennen. Nach wenigen Augenblicken

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