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Racheengel

Racheengel

Titel: Racheengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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bemerkte sie, dass die raue Haut nicht mehr über ihre eigene rieb. Sie blickte zurück auf den Weg. Da lag Papa auf dem Rücken, die schwieligen Hände über der Brust gefaltet, das Gesicht bleich im Dämmerlicht des Waldes.
    Aus den Bäumen um ihn herum kam ein Knurren. Aus dem Unterholz tauchte eine Schnauze auf, tief auf der Erde beschnüffelte sie die Fährte des Toten. Dann noch eine und noch eine, einer nach dem anderen kamen Hunde aus dem Wald, um sich am dargebotenen Opfer zu laben.
    Galya riss den Mund auf und wollte sie anschreien, aber da neigte sich die Erde und warf sie auf die Steine und verrottenden Blätter nieder. Der Boden schlingerte und drückte sie gegen Papas Körper. Nur dass Papa da gar nicht mehr lag, sie rollte nur im Kies und Schlamm herum.
    Die Hunde kamen näher. Da wusste Galya, dass sie nicht gekommen waren, um ihren Großvater zu fressen. Sie war es, was die Hunde wollten. Sie versuchte sich hochzurappeln, ihnen zu entkommen, aber der Morast drückte sie nieder wie eine warme Decke.
    Die Mäuler fühlten sich auf ihrem Körper an wie harte Hände, die Zähne wie ungehobelte, hässliche Finger. Während Galya im Schlamm ertrank, beschnüffelten sie ihre Ohren, ihre Rippen, ihre Zehen und Hüften, alles außer die geheimen Orte, die nur jenem Liebhaber gehörten, den sie vielleicht nie mehr kennenlernen würde. Am Ende spreizten sie ihre Lippen und leckten ihr über die Zähne.
    Galya roch Schweiß und saure Milch und wusste, dass sie träumte. Durch den Morast schwamm sie nach oben, wollte unbedingt aufwachen, doch die Kräfte verließen sie, zu groß war die Anstrengung. Stattdessen ließ sie sich vom Bauch der Finsternis umfangen, verschlungen von einem so undurchdringlichen Schlaf, dass sie meinte, vielleicht tot zu sein.
    Als sie niedersank, ließen die Hände von ihr ab, weggerufen von einer neuen Stimme, dem Geheul eines Tieres in der Ferne.

23
    Billy Crawford verließ das Mädchen, um oben nach der Kreatur zu sehen. Ständig rief sie. Ständig wollte sie mehr. Nie ließ sie ihn in Ruhe. Eines Tages würde sie ihm bestimmt noch die Augen aussaugen.
    Er stieg die Treppe bis zur Dachkammer hoch, seine Schultern streiften die Wände. Schon wieder rief sie nach ihm, ihre Stimme unerbittlich wie eine Klaue. Reglos und still blieb er vor der Tür stehen und zuckte bei jedem Kreischen zusammen.
    »Gott steht mir bei«, flüsterte er. Ein stilles Zwiegespräch zwischen ihm und dem Schöpfer. »O Herr, verleih mir die Kraft, dies zu ertragen.«
    Er öffnete die Tür und trat ein. Damit ihr Gestank ihn nicht überwältigte, atmete er so flach wie möglich. Nach sechs Schritten war er in ihrem Blickfeld.
    Sie richtete ihre Augen auf ihn und riss den zahnlosen Mund auf. Dann schrie sie und schlug mit den Klauen aus.
    »Still«, befahl er.
    Die Kreatur richtete sich auf, ihre Stimme überschlug sich, ein heiseres Geheul, das sich in seine Trommelfelle grub wie die Krallen einer Ratte.
    »Still«, wiederholte er energischer.
    Sie schrie weiter, die hellblauen, tränenden Augen quollen hervor.
    Er presste ihr eine Hand auf den Mund und drückte den Kopf zurück. Sie starrte zu ihm hoch. Er konnte fühlen, wie das glitschige Zahnfleisch an seinen Schwielen saugte.
    »Still«, befahl er. »Oder ich tue dir weh.«
    Da beruhigte sie sich. Das zahnlose Maul hörte auf, an seiner Haut zu knabbern.
    Er kniete sich hin. »Bete mit mir«, sagte er.
    Er legte die Hände der Kreatur zusammen, senkte den Kopf und schloss die Augen.
    »Unser Vater im Himmel«, begann er.
    Er betete, der Schöpfer möge gnädig sein und das Leiden dieses Geschöpfs bald beenden. Er betete für den Tag, an dem er eine Nacht würde schlafen können, ohne sein weidwundes Geheul zu hören. Er betete, der Herr möge Erbarmen mit dem haben, was auch immer statt einer Seele in dieser Brust vor sich hin faulte.
    Er betete, und die Kreatur heulte.

24
    Lennon war auf dem Weg ins Büro, in einer Hand eine Dose Cola, in der anderen den vorläufigen rechtsmedizinischen Bericht über Tomas Strazdas. Ein vorbeikommender Sergeant fragte ihn, ob er schon von dem Mord in Sydenham gehört habe. Das Opfer könne von Interesse sein.
    »Wer ist es?«, fragte Lennon.
    »Mark Mawhinney.«
    Lennon blieb stehen. »Der Bruder von Sam Mawhinney?«
    »Soweit ich weiß«, antwortete der Sergeant. »Er ist ziemlich bekannt. Schon der erste Beamte am Tatort hat ihn erkannt. Es heißt, man habe ihm das Genick gebrochen. Die Fußspuren im Schnee deuten auf

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