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Racheengel

Racheengel

Titel: Racheengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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Weide, hätte sie gesagt.
    Galya lachte auf und hielt sich rasch eine Hand vor den Mund. Sie schmeckte Blut und sah, dass ihre Hände voller Blasen und Schnitte waren. Ihr Herz raste.
    »Beruhige dich«, befahl sie sich.
    Sie schniefte, spuckte noch einmal aus, dann zwängte sie beide Arme durch das Loch, anschließend den Kopf und danach die Schultern, die immer noch aufgeschürft waren, seit sie sie durch das Absperrgatter einer Baustelle gezwängt hatte. Die abgebrochenen Enden der Holzlatten verfingen sich in ihrer Kleidung. Galya schob Stapel von Handtüchern aus dem Weg und umklammerte mit beiden Händen die Vorderkante des Regalbretts, auf dem sie gelegen hatten. Dann zog sie sich nach vorn.
    Höchstens zwanzig Zentimeter hoben ihre Füße vom Boden ab. Galya zog noch fester. Spitze Holzsplitter stachen in ihr Oberteil und die Brust. Die dünne Kette um ihren Hals spannte sich und riss. Galya merkte, wie ihr das Kreuz von der Brust fiel. Sie trat Luftlöcher und versuchte, nach vorne zu ruckeln. Ihre Ferse stießgegen den Türrahmen des Schranks, und da wusste Galya, wie es ging. Sie verkeilte die Füße zu beiden Seiten der Tür und drückte die Beine durch.
    Das Holz zerriss ihr Oberteil, schartige Splitter hinterließen brennende Risse auf Bauch und Rippen. Sie zog so lange mit den Armen und schob mit den Beinen, bis ihr eigenes Gewicht sie über das Regalbrett und durch das Loch hievte. Umgeben von herabregnenden Handtüchern, fiel sie auf der anderen Seite zu Boden. Der dicke Teppich federte den Aufprall von Nacken und Schultern ab.
    Keuchend rollte sie sich auf den Rücken, um sie herum wirbelte Staub hoch. Sie hustete. In ihren Nacken- und Schultermuskeln loderte der Schmerz auf. Zum Schreien fehlte ihr der Atem, also zog sie nur die Knie an und biss die Zähne zusammen. Sie sah Sterne, schwarze Punkte brannten in ihren Augen.
    Vorsichtig atmete sie ein und aus, bis ihr Blickfeld wieder klar wurde. Ohne die Schulter zu viel zu belasten, rollte sie sich auf die Seite und stemmte sich auf die Knie hoch. Überall auf dem Teppich mit seinem im Lauf der Jahre nachgedunkelten Blumenmuster lagen Handtücher verstreut.
    Das Treppengeländer war in trübem Braungelb gestrichen, der Farbton der Tapete war ähnlich. Es sah aus, als habe jemand vor dreißig Jahren die Tür dieses Hauses hinter sich zugemacht und sei nie mehr zurückgekehrt. Selbst in der Luft schien ein Hauch von Verfall zu liegen.
    Galya rappelte sich hoch, streckte einen Arm aus und prüfte, wie sehr ihre Schulter schmerzte. Die Bewegung schien dem Gelenk gutzutun. Sie hielt die Luft an und lauschte. Immer noch wogte von oben die Stimme auf und ab, aber inzwischen schien sie schwächer zu werden. Zuerst hatte Galya einen Hund vermutet, aber jetzt wusste sie, dass das ein Mensch war. Ein Mensch, der Schmerzen litt.
    Jenseits des Zimmers, aus dem Galya gerade entkommen war, befand sich eine schmale Stiege. Galya konnte nur die ersten Stufen sehen, danach verschwand sie in der Dunkelheit. Die Schreie kamen von dort oben. Galya schaute auf die Treppe, die nach unten führte, hinaus aus diesem Haus mit seinen verschrobenen Männern und verschlossenen Türen.
    Ob der Mensch, der da schrie, vielleicht Hilfe brauchte? Natürlich. Aber Galya musste hier heraus, bevor der Mann wiederkam. Was, wenn die Stimme einem Mädchen wie ihr gehörte? Hielt er etwa noch jemanden in diesem Haus gefangen?
    Lange Sekunden blieb Galya unschlüssig stehen, hin- und hergerissen zwischen dem dringenden Wunsch zu fliehen und dem Bedürfnis, dem Menschen zu helfen, der da so schrie. Wenn sie es nun wäre, die dort oben eingeschlossen wäre und schreien würde wie ein Tier?
    »Ich werde helfen«, beschloss Galya.
    Sie näherte sich der Treppe und starrte in die Finsternis hinauf. Ein kalter Luftzug umwehte sie und stieg nach oben, als folge er ihrem Blick.
    »Hallo?«, rief sie auf Englisch.
    Augenblicklich verstummte die Stimme.
    »Hallo?«, rief Galya noch einmal. »Wer ist da?«
    Die Stimme erhob sich wieder, noch lauter, noch heiserer und schriller als zuvor.
    Galya schaute wieder zurück zur Treppe, die nach unten führte, und machte einen Schritt darauf zu. Dann blieb sie stehen, einen Fuß noch in der Luft.
    Ein Gedanke bedrängte sie, hart und unerbittlich: Mama hätte geholfen.
    Galya wusste, dass es so war. Sie machte kehrt und betrat die Stiege. Ein Knarren.
    Die Stimme verstummte kurz, um dann erneut zu einem Kreischenanzuschwellen, das aus der Finsternis

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