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Racheengel

Racheengel

Titel: Racheengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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heruntergellte. Galya stützte sich an beiden Seitenwänden ab.
    »Hilfe«, flehte sie.
    Langsam, vorsichtig stieg sie nach oben und unterdrückte den unwiderstehlichen Impuls, Reißaus zu nehmen. Die Wände unter ihren Handflächen fühlten sich feucht an. Jede Stufe knarzte, wenn sie darauftrat. Die Luft wurde kühler, und ein widerlicher, stechender Gestank überwältigte sie, so wie von den Tieren auf Mamas Hof, wenn sie krank waren und starben.
    Als sie oben ankam, lichtete sich die Finsternis ein wenig. Galya erkannte zwei Türen, eine geschlossen, die andere offen. Schwaches Licht fiel auf den beengten, kaum mehr als einen Quadratmeter großen Treppenabsatz.
    Mit den Fingerspitzen drückte Galya die schmale Tür auf. Mehr Licht drang nach draußen. Unter einem Dachfenster stand ein schmales Bett, das eher aussah wie die Koje einer Gefängniszelle. Sonst gab es bis auf einen einfachen Stuhl und eine Kleiderstange mit Männersachen keine Möbel.
    Galya wandte sich der geschlossen Tür zu. Unter dem Türknopf steckte ein Schlüssel. Galya drehte ihn und hörte es metallisch knirschen. Die Tür bewegte sich ein wenig. Galya drehte den Knauf.
    Als Erstes schlug ihr der Gestank entgegen. Urin und Kot, vermischt mit Erbrochenem und Chlor. Mit einer Hand hielt sie sich Mund und Nase zu. Das Geheul hörte auf und wich rasselndem Atmen.
    Das Bett stand ganz hinten im Zimmer, das Kopfende zur Wand. Dahinter erhob sich wie ein Kirchturm das Dachgesims. Unter den Decken lag eine zitternde Gestalt.
    Galya trat über die Schwelle. Unter ihren Füßen fühlte sie die Bodendielen. Langsam näherte sie sich und behielt dabei unverwandt das Bett im Auge. Die Gestalt schrie auf. Eine dürreHand hob sich in den Lichtstrahl, der die stinkende Luft durchschnitt.
    Eine Frauenhand, vom Alter gezeichnet, mit langen Fingernägeln und rissiger gelber Haut. Alte Narben und gerade erst verschorften Wunden.
    »Hallo?«, wisperte Galya auf Englisch.
    Die Stimme antwortete, ein Aufschrei, der in einem Pfeifen und Rasseln erstarb, als der Frau die Luft ausging. »Brauchen Sie Hilfe?«, fragte Galya.
    Ein Kopf hob sich vom Kissen, ein eingefallenes, rotfleckiges Gesicht. Weiße Haarfäden wie Spinnweben sprossen aus der hellroten Kopfhaut. Die schwarzen Augen der Frau waren starr, der zahnlose Mund ging auf und zu. Die Sehnen in ihrem Hals zitterten von der Anstrengung , den Kopf hochzuhalten. Mit einem Stöhnen sank er auf das Kissen zurück.
    Galya stellte sich neben das Bett. Die Frau starrte zu ihr hoch. Aus einem verzerrten Mundwinkel rann Speichel, der Gaumen hinter den schmalen Lippen glänzte rosafarben.
    »Aaaahhhh«, machte sie, den Mund weit aufgerissen.
    »Ich verstehe nicht«, sagte Galya. »Brauchen Sie Hilfe? Soll ich jemanden holen? Einen Arzt?«
    »Mwaa«, machte sie Frau. Sie reckte die Arme hoch, die Hände wie Klauen, doch ihre spindeldürren Beine unter der Decke rührten sich nicht.
    »Was wollen Sie?«, fragte Galya.
    Die Alte zischelte durch den zahnlosen Mund und packte Galya am Arm. Galya versuchte sich loszureißen, aber die vernarbten Finger der Frau wanden sich um ihr Handgelenk wie feste Schlingpflanzen. Die andere Hand tastete auf der Ablage des Kopfendes herum. Das Holz war rau und splittrig, eingetrocknetes Blut befleckte den Lack. Die Alte fuhr mit den Fingern auf der Oberfläche hin und her, bis sich eine neue Wunde öffnete.
    »Nicht«, sagte Galya. »Sie verletzen sich ja. Das tut weh.«
    Je mehr Galya sich loszureißen versuchte, desto fester packte die Alte zu. Sie legte ihren blutenden Zeigefinger auf die Laken über ihrem Bauch und strich damit hin und her.
    »Bitte aufhören«, bat Galya. »Ich hole Hilfe.«
    Die Alte zeigte auf die blutigen Flecken, die sie auf die Laken geschmiert hatte. Galya starrte sie an und spürte, wie die runzelige Hand sie losließ. Sie musterte die wirren roten Linien auf dem blutbefleckten Stoff, und ganz allmählich ergaben sie einen Sinn.
    Drei Buchstaben.
    Ein Wort.
    WEG.

37
    Lennon brauchte fast zwanzig Minuten, um von einer Seitenstraße an der Queen’s University ins Stadtzentrum zu marschieren. Der Verkehr war zum Erliegen gekommen, also hatte er beschlossen, den Wagen abzustellen und die restliche Strecke durch den Schnee zu stapfen, Als er am Einkaufszentrum an der Victoria Street um die Ecke bog, hatten seine angeblich wasserdichten Schuhe bereits den Dienst aufgegeben. Die Socken waren nass, und die Zehen begannen taub zu werden.
    In dem Moment, als er die zwei

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