Racheengel
Verkehrspolizisten und den Mann entdeckte, den sie festhielten, klingelte sein Handy. Lennon drückte sich an die Außenmauer des Einkaufszentrums, in der Hoffnung, dort ein wenig geschützt zu stehen. Er meldete sich.
»Das Kind ist den ganzen Tag allein gewesen«, sagte Bernie McKenna.
»Sie ist nicht allein gewesen«, wehrte Lennon ab. »Sie war bei Susan und Lucie.«
»Sie sollte bei ihrer Verwandtschaft sein und nicht bei irgendwelchen Nachbarn, die zu nachgiebig sind, auch mal nein zu sagen.«
»Das sind nicht irgendwelche Nachbarn. Lucy ist ihre beste Freundin.«
»Mag ja sein«, sagte Bernie, »trotzdem gibt es keinen Grund, warum die Kleine zu Weihnachten allein sein soll. Ich kann sie abholenund bin noch vor dem Fünf-Uhr-Tee wieder zu Hause. Dann kann sie Weihnachten mit Leuten verbringen, die sie lieb haben. Und Sie müssen sich keine Sorgen mehr um sie machen.«
»Ich bin heute Abend zu Hause«, sagte Lennon. »Sie wird Weihnachten mit mir feiern.«
Es kostete ihn einige Anstrengung, diese Worte so überzeugend vorzutragen, als würde er sie wirklich glauben. Aber Familie hin oder her, er würde Ellen immer noch lieber in Susans Wohnung wecken als in Bernie McKennas Haus.
»Diese Susan hat mir erzählt, dass Sie zum Dienst angefordert wurden«, erklärte Bernie, und Lennon hörte in ihrem Vorwurf beinahe die Schadenfreude mitschwingen. »Wegen irgendwelcher Morde. Sie hat gesagt, sie weiß nicht, wann Sie zurückkommen.«
»Heute Abend bin ich wieder da«, sagte Lennon. »Sie sehen Ellen dann am 2. Weihnachtstag, das hatte ich Ihnen ja schon gesagt. Rufen Sie mich nicht noch mal an.«
Er legte auf. Fast im selben Moment klingelte das Handy erneut, aber er unterdrückte den Anruf und steckte es weg.
Weiter vorne stand mit finsterem Blick ein großer, breitschultriger Mann in einem Lederjackett am Straßenrand. Neben ihm war halb auf dem Bürgersteig ein schwarzer Mercedes abgestellt. Einer der Polizisten leitete den Verkehr um ihn herum.
Lennon ging hin und zeigte den Beamten seinen Ausweis. Der Hüne zeigte keine Reaktion, er starrte nur weiter ins Leere, als gäbe es weit wichtigere Dinge als die Polizisten um ihn herum.
»Herkus Katilius?«, sprach Lennon ihn an.
Herkus zuckte die Achseln.
»Ich bin Detective Inspector Jack Lennon. Ich ermittle im Mordfall Tomas Strazdas, einem Ihrer Kollegen.«
Herkus gönnte Lennon einen Blick.
»Dem Bruder von Arturas Strazdas, Ihrem Arbeitgeber.«
»Englisch nicht gut«, sagte Herkus.
»Das höre ich heute schon zum zweiten Mal«, sagte Lennon. »Beim ersten Mal habe ich es auch schon nicht geglaubt.«
Einer der Verkehrspolizisten kam hinzu. »Sein Englisch ist tadellos.«
Herkus funkelte den Cop an.
Lennons Handy klingelte. Er zog es aus der Tasche, sah, dass es Bernie McKenna war, und drückte den Anruf erneut weg. Dann schaltete er das Handy auf Vibrieren und steckte es wieder ein.
»Gibt es etwas, was Sie mir über den Mord an Tomas erzählen wollen?«, fragte er Herkus.
Herkus schüttelte den Kopf. Dann klingelte sein eigenes Telefon, und er zuckte zusammen.
»Erwarten Sie einen Anruf ?«, fragte Lennon.
Herkus grinste ihn verschlagen an. »Sie denn?«
»Nicht von jemandem, mit dem ich sprechen wollte.«
»Ich auch nicht«, sagte Herkus.
Zum zehnten Mal fragte sich Lennon, ob er Herkus nicht lieber aufs Revier hätte bringen lassen sollen. Zum zehnten Mal entschied er sich dagegen. Jeden durchschnittlichen Mann hätte die unerbittliche Atmosphäre eines Verhörraums vielleicht weichgeklopft, aber ein einziger Blick auf Herkus verriet Lennon, dass der schon in zu vielen Zellen gesessen hatte, um sich davon beeindrucken zu lassen. Ein Mann wie er wusste bestimmt, wie man bei einem offiziellen Verhör die Schotten dicht machte und auf den Anwalt wartete. Womöglich sogar auf diesen Scheißkerl Rainey, der in Strazdas’ Hotelzimmer gewesen war. Der würde dann hereinstürzen und verlangen, dass man Herkus freiließ oder auf seine Rechte hinwies. Und außer ein paar Gerüchten hatte Lennon gegen den Litauer nichts in der Hand. Also erledigte er die Sache lieber hier und nutzte die Gerüchte zu seinem Vorteil.
»Ich weiß von dem Mädchen«, sagte er.
Herkus’ Grinsen war wie weggeblasen. Doch dann schlich essich wieder in sein Gesicht zurück, und er fragte: »Welches Mädchen?«
Lennon zog den Pass aus der Tasche, schlug ihn auf und hielt Herkus das Foto vor die Nase.
»Das Mädchen, das mit diesem Pass eingereist ist«, sagte
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