Racheengel
nichts Gutes war, soviel wusste er. Nach seiner Reaktion zu urteilen kannte Hargreaves es auch.
Ein schroffes Räuspern von der Tür her brachte Hargreaves zum Schweigen. Als Herkus sich umdrehte, sah er Laima Strazdienéins Zimmer kommen. Sie reichte ihm nur bis zur Schulter und hatte eine schmale, elfengleiche Figur. Trotzdem wusste er, dass mit ihr nicht zu spaßen war.
Es war nicht die Art, wie sie ihren Hosenanzug und die für ihre Finger viel zu großen Ringe trug, wie sie beim Durchqueren des Raumes die Schultern durchdrückte oder ihre Lippen zusammenpresste. Es war die dunkle Kälte in ihren Augen, die wie Kohlen in den Höhlen lagen.
»Wo liegt das Problem?«, fragte sie in perfektem Englisch.
So gut er konnte, berichtete Herkus unter den beständigen Protesten und Zwischenrufen des Freiers ebenso wie der Hure.
Laima nickte einmal kurz und lächelte höflich. »Einen Moment«, sagte sie.
Herkus, das Mädchen und Hargreaves sahen ihr nach, wie sie das Zimmer verließ.
»Wo ist sie hin?«, fragte Hargreaves.
Noch bevor Herkus antworten konnte, kehrte Laima mit einem Bündel Hundert-Euro-Scheinen in der Hand zurück. Sie zählte vier Scheine ab und reichte sie dem Freier.
»Ihr heutiger Besuch wird natürlich nicht berechnet«, erklärte sie.
»Danke«, sagte Hargreaves.
Jetzt, wo er sich nicht mehr auf seine Empörung stützen konnte, war der Mann ganz auf das schäbige Geschäft reduziert, wegen dem er hergekommen war. Rasch zog er sich an und dankte Laima noch einmal.
»Bitte führ den Herrn hinaus«, wies sie Herkus an.
Er gehorchte und brachte Hargreaves aus dem Zimmer. Laima schloss hinter ihnen die Tür. Auf dem Weg zum Ausgang sprachen er und der Engländer keinen Ton miteinander. Sie wechselten auch dann noch keinen Blick, als die ersten Schreie aus dem Raum drangen, den sie gerade verlassen hatten.
Nachdem der Freier weg war, blieb Herkus draußen vor der Tür stehen. Er hatte keine Lust, das Geschrei noch deutlicher zu hören. Die anderen Mädchen versammelten sich im Flur und warfen einander ängstliche Blicke zu, manche zuckten bei jedem neuen Schrei zusammen.
Bald schon wurde aus dem Geschrei ein Gejammer. Dann herrschte Stille, nur noch durchbrochen von angestrengtem Ächzen. Mit Tränen in den Augen huschten die Mädchen auf ihre Zimmer zurück, weil sie das, was sie gehört hatten, nicht länger ertragen konnten.
Irgendwann tauchte Laima wieder auf. Keuchend wischte sie sich mit einem Taschentuch die Stirn ab. Der spitzenbesetzte Stoff hinterließ eine rote Schliere auf ihrer Stirn. Herkus wollte es ihr eigentlich sagen und anbieten, ihr ein sauberes Papiertaschentuch zu holen, aber dann bemerkte er die Ringe. Einzelne Haarsträhnen hingen von ihnen herab wie Zuckerwatte. An den Diamanten klebten Hautfetzen.
»Diese junge Dame arbeitet nicht mehr für uns«, erklärte Laima. »Bitte entferne sie aus meinem Haus.«
Von dort, wo Herkus das Mädchen zurückließ, konnte es allein zum Ambulanzeingang des Krankenhauses kriechen. In dieser Nacht brauchte er fast eine ganze Flasche Wodka, um einschlafen zu können.
»Nein«, sagte er, »das will ich ihr lieber nicht erzählen.«
»Also, dann bleiben wir da«, sagte Arturas. »Und außerdem, wenn dieser Detective wirklich etwas in der Hand hätte, hätte er einen von uns inzwischen schon längst vorgeladen. Such weiter.«
»In Ordnung«, sagte Herkus. »Aber es ist gefährlich.«
»Keine Sorge. Ich werde diesmal zu Weihnachten großzügig zu dir sein.«
»Wie großzügig?«
Eine Pause entstand. Dann sagte Arturas: »Sehr großzügig.« »Okay.« »Aber zuerst bringst du mir, was ich haben wollte.« Das Hotel kam in Sichtweite. »Gleich«, sagte Herkus.
39
Eigentlich hatte Galya schon vorher gewusst, dass die Türen abgeschlossen sein würden, doch vor lauter Hoffnung und Angst probierte sie es trotzdem. Zunächst ging sie zur Vordertür, stellte aber fest, dass sie nicht nur fest verschlossen, sondern auch noch mit einem schweren Vorlegeschloss gesichert war. Obwohl ihr klar war, dass es keinen Zweck hatte, versuchte sie, die Tür nach innen aufzuziehen, aber sie war aus massivem, mit einer dicken Lackschicht bedecktem Holz und ohne Scheibe.
Als Galya in die Küche ging, erinnerte ihr Magen sie knurrend daran, dass sie schon seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen hatte. Keine Zeit, daran jetzt einen Gedanken zu verschwenden. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Tür zum Hinterhof. Sie ruckelte am Knauf. Wieder tat sich
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