Racheengel
nichts. In ihrer Brust wallte Panik auf. Um sie einzudämmen, legte sie sich eine Hand aufs Herz.
Das Fenster über dem Spülbecken.
Galya packte die Gardine davor und riss. Die Gardine flatterte zu Boden wie ein sterbender Engel. Dann nahm sie einen der Holzstühle, die um den kleinen Tisch standen, und warf ihn gegen die Scheibe. Der Stuhl polterte zu Boden, doch das Fenster blieb heil, nur eine Tasse fiel vom Abtropfständer und zerschellte auf den Fliesen. Als Galya auf die Splitter hinabschaute, sah sie rote Spritzer auf einem gelben Fußballshirt vor sich. Sie kniff die Augen zusammen, bis das Bild wieder verschwunden war.
Gehärtetes Doppelglas, genau wie in dem Raum, in dem sie eingesperrt gewesen war. Galya wusste, dass sie nur die ihr verbliebene Kraft vergeuden würde, wenn sie es zu zertrümmern versuchte. Aber was sonst? Sie konnte doch nicht einfach nur hier herumstehen und abwarten, bis er zurückkehrte.
Galya ging zurück zur Tür, griff unter das Vorlegeschloss und drehte es so weit auf, wie der Riegel zuließ.
Zu jedem Schloss gibt es einen Schlüssel.
Such ihn.
Sie durchwühlte jede Schublade in der Küche, fand aber nichts als stumpfe Messer und nutzlosen Krimskrams: alte Batterien, Plastikbeschläge für Selbstbaumöbel, ein paar Rollen Klebeband. Lauter Sachen, die Leute normalerweise wegwarfen, wenn sie sie nicht mehr gebrauchen konnten. Dieser Mann allerdings nicht.
In der allerletzten Schublade entdeckte sie ein altes Handy. Das Gehäuse war hellrosa, auf der Rückseite war eine glänzende Blume aufgeklebt. Einen Moment lang fragte sie sich, warum er wohl ein Telefon gekauft hatte, das aussah wie für ein Mädchen, doch dann verscheuchte sie diesen Gedanken, bevor er zu weit führte und dafür sorgte, dass die Angst in ihrem Herzen sie überwältigte. Sie drückte lange auf den Einschaltknopf.
Das Display blieb grau und leer, und Galya warf das Telefon zurück in die Schublade.
Nachdem sie alle Schränke durchsucht hatte, verließ Galya die Küche. Von der Diele gingen noch zwei weitere Zimmer ab. Sie öffnete die erste, die aber schon nach wenigen Zentimetern gegen ein Hindernis stieß. Galya konnte kaum den Kopf durch die Lücke zwängen und ins dunkle Innere spähen.
Fast bis zur Decke stapelten sich Kisten. Einige enthielten irgendwelche Unterlagen, andere abgenutztes Werkzeug oder Haushaltsgegenstände. Dazwischen standen Säcke mit alten Kleidern, Decken und Laken. Einer der Stapel war umgekippt, undirgendwelches Gerümpel war vor der Tür gelandet. Ein starker Geruch nach Feuchtigkeit und Staub lag in der Luft. Galya vermutete, dass die Tür seit Monaten, vielleicht seit Jahren nicht mehr geöffnet worden war. Sie zog sie zu und überließ das Gerümpel der Dunkelheit.
Die zweite Tür führte in ein Wohnzimmer. In der Mitte stand ein einzelnes Sofa und davor ein niedriger Tisch, auf dem eine große Bibel lag. Die tickende Uhr auf dem Kaminsims war der einzige andere Gegenstand, den Galya entdecken konnte. Wieder dämpfte eine Gardine das Licht von draußen.
Galya trat an den Tisch und schaute auf das Buch hinab. Ein verblasstes und vergilbtes Lesezeichen lag darauf, das Bild eines knienden Jesus, dessen blaue Augen ein Kind anschauten. Darunter stand in verschnörkelter Schrift ein Vers. Galya las das Wort »leiden« und suchte im Kopf nach der russischen Übersetzung. Als sie ihr wieder einfiel, wandte sie den Blick ab.
Jetzt bemerkte sie noch ein weiteres Möbelstück im Zimmer, es stand hinter der Tür, durch die sie gekommen war. Es war ein antiker Sekretär, dessen Rollladen offen stand. Um eine größere Schublade herum gruppierte sich noch mindestens ein Dutzend kleinerer, sie ragten über dem lederbezogenen Schreibpult auf wie die Mauern eines Schlosses. Das perfekte Versteck für einen Schlüssel.
Eine nach der anderen zog Galya die Schubladen auf, doch abgesehen von ein paar Zetteln waren alle leer. Schließlich zog sie an der größten Schublade. Sie rührte sich nicht.
So lächerlich es auch sein mochte, plötzlich beschlich Galya ein untrügliches Gefühl: Der Schlüssel, den sie suchte, war dort drinnen. Sie zog zu beiden Seiten die kleineren Schubladen heraus, insgesamt vier. Nun waren die Lücken groß genug für ihre Hände. Das Holz unter ihren Fingern fühlte sich kühl und trocken an, als sie hineingriff und an den Seiten der Schublade entlangfuhr. Sie drehtedie Hände und zwängte ihre Fingerspitzen durch den schmalen Spalt über der Lade, in der
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