Racheengel
Hoffnung, so deren Inhalt ertasten zu können.
Da war etwas, weich wie ein samtenes Tuch. Galya zwängte ihre Finger noch weiter hinein, bis sich das Holz in ihr Fleisch grub und die Knöchel in dem schmalen Spalt stecken blieben. Es tat weh, aber sie ignorierte den Schmerz und konzentrierte sich ganz auf ihren Tastsinn. Da war etwas Hartes … nein, gleich mehrere Teile, unter dem Samt waren sie kaum zu fühlen.
Galya zog die Hände wieder heraus. An ihren Knöcheln war die Haut aufgerissen, und in den kleinen Schürfwunden, die das Holz hinterlassen hatte, perlten rote Tröpfchen. Galya leckte sie ab, es schmeckte nach Salz und Metall. Der Litauer fiel ihr wieder ein, seine weit aufgerissenen Augen, während es aus seiner Kehle geblubbert hatte.
Die Übelkeit kam wie eine warme Welle. Galya rang sie nieder und dachte nach.
Die Küche. Such etwas, womit du die Schublade aufstemmen kannst.
So schnell ihre schmerzenden Fußsohlen es zuließen, rannte sie los und suchte sich ein Messer. Edelstahl mit einem Elfenbeingriff. Mit so einem Messer hatte Mama früher immer die harte Butter geschnitten, sie hatte es von ihrer eigenen Großmutter geerbt.
Galya kehrte zum Sekretär zurück und schob das Messer in den Spalt über der Schublade, ganz in der Nähe des Schlosses. Sie hebelte damit auf und ab, aber der Sekretär ruckelte gegen die Wand, und die meiste Krafteinwirkung ging verloren. Galya stemmte sich mit der Hüfte dagegen und versuchte es erneut.
Diesmal übertrug sich die ganze Hebelkraft auf die dünne Holzblende. Sie bog sich, brach aber nicht. Galya hockte sich hin, stemmte sich gegen den Sekretär und drückte das Messer mit den Füßen hoch.
Das Holz knackte. Galya entfuhr ein Kichern. Ihre Schläfen pochten.
Noch einmal trat sie mit aller Kraft zu, und das Holz gab nach. Die Schubladenblende zerbrach in zwei Teile, das Schloss hing nur noch an ein paar zersplitterten Trümmern. Galya hechelte, ihre Wangen waren rot. Sie riss das Holz weg und griff hinein.
Der Samtbeutel blieb an den Holzsplittern hängen. Galya schob ihre Finger in die rote Öffnung und befühlte die harten Teile darin. Dass das ganz bestimmt keine Schlüssel waren, merkte sie sofort, noch bevor sie den Inhalt auf das rissige Leder schüttete.
Konsterniert musterte sie die Gegenstände und versuchte darin irgendetwas wiederzuerkennen, was sie kannte. Schmuck, dachte sie, milchig-weiße Perlen mit gezackten Enden, so wie die Wurzeln von Pflanzen.
Wurzeln.
Das war kein Schmuck.
Ihr drehte sich der Magen um. Ruckartig zog sie die Hand zurück, und die kleinen, harten Gegenstände kullerten auf das Leder. In einem lockeren Kreis lagen sie da, als wollten sie sich für Galya hübsch präsentieren, ein Ballett aus Schmelz und Blut.
Es war ein Kreis aus Zähnen, der da zu ihr hoch grinste.
Vielleicht hätte der Schwindelanfall sie zu Boden gestreckt, wenn nicht von draußen ein schwaches Motorengeräusch zu hören gewesen wäre.
40
Billy Crawford zog die Handbremse an und den Schlüssel aus dem Zündschloss. Der alte Toyota Hiace zitterte scheppernd, als der Motor erstarb. Billy blieb schweigend sitzen und dachte an den Tag, der noch vor ihm lag.
Wenn er alles schaffte, was zu erledigen war, fand er ja vielleicht noch die Zeit, am späten Weihnachtsgottesdienst seiner Kirche teilzunehmen. Den genoss er jedes Jahr, genau wie den Morgengottesdienst. Er wäre enttäuscht gewesen, einen von beiden zu versäumen. Aber das Mädchen war ihm unerwartet zugefallen, und wer war er, den Willen des Herrn zu hinterfragen? Wenn er nicht in die Kirche konnte, musste es wohl so sein. Gott würde ihm seine Abwesenheit schon verzeihen.
Er stieg aus dem Fahrerhaus des Transporters und ging zum Hintertor. Seine Stiefel knirschten im Schnee. Mit einem müden Ächzen schwang das Tor zu, und er hängte das Vorhängeschloss wieder davor. Dann kehrte er zum Wagen zurück, öffnete die seitliche Schiebetür und holte den Meißelaufsatz und die Sägeblätter heraus, die er gekauft hatte. Um den Sack mit dem Schotter und Sand würde er sich später kümmern.
Er stapfte zur Hintertür und suchte nach dem passenden Schlüssel. Sein Atem dampfte, als er »Stille Nacht« vor sich hin summte. Ihm fiel wieder ein, wie er als kleiner Junge immer geschäumt hatte vor Wut, wenn die anderen Kinder sich bei der Morgenandachtüber das geistliche Lied lustig gemacht hatten. An der Stelle »Lieb’ aus deinem göttlichen Mund« keuchten sie beim letzten Wort immer
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