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Racheengel

Racheengel

Titel: Racheengel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stuart Neville
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ich gehe jeden Sonntagmorgen mit unserer Ma in die katholische Kirche, das langt. Mich von einer wie ihr vollpredigen zu lassen, das hatte ich nun wirklich nicht nötig. Aber sie hat trotzdem ununterbrochen weitergemacht.
    Am Ende ist mir der Geduldsfaden gerissen, und ich habe ihr ein paar Sachen gesagt, die mal gesagt werden mussten. Das hat ihr nicht gepasst, und sie hat mich rausgeworfen. Ich weiß noch, wie ich im Regen auf ein Taxi gewartet habe und der kleine Edwin mich vom Schlafzimmerfenster aus beobachtete. Hatte sein rundes Gesicht an die Scheibe gedrückt. Ich habe einmal zu ihm hochgewinkt, aber zurückgewinkt hat er nicht. Hat nur weiter runtergeglotzt.
    Danach haben wir ein Jahr lang keinen Pieps von ihr gehört, bis meine Ma schließlich einen Brief kriegte, in dem stand, dass der Mann gestorben war. Ist sturzbesoffen in den Kanal gefallen und ertrunken. Unsere Ma hat Cora zurückgeschrieben, sie könne zu uns zurückkommen, wenn sie wolle. Aber danach haben wir nichts mehr gehört. Erst wieder, als sie vollends den Verstand verloren hatte und eingeliefert wurde.
    Edwin war damals zwölf oder dreizehn. Als wir ihn gefunden haben, war er schon über eine Woche im Schlafzimmer eingesperrt, und nur seiner Bibel ist es wohl zu verdanken, dass er nicht selbst verrückt wurde. Zum Glück hatte er eine Waschschüssel im Schlafzimmer, sonst wäre er da drinnen gestorben.
    Wir wollten, dass er nach Belfast kam und bei mir und meiner Ma blieb. Es war ihr einziges Enkelkind, und sie hatte ihn noch nie zu Gesicht bekommen. Aber die Großmutter väterlicherseits war dagegen. Angeblich wollte sie nicht, dass er hier wohnte, wo es so viel Mord und Totschlag gab. Kann ich ihr nicht mal verübeln. Sie sehen aus, als wären Sie alt genug, um zu wissen, wie es hier in den Achtzigern zuging.«
    »Ich erinnere mich noch«, sagte Lennon.
    Ja, wir hatten es alle nicht leicht. Jedenfalls, als Edwin dann achtzehn war, hat er Cora in Pflege genommen, soweit ich weiß. Danach habe ich von den beiden nichts mehr gehört, bis sie starb. Zur Beerdigung bin ich gar nicht gefahren, die war irgendwo da drüben.
    Aber nicht lange danach rief er mich an und fragte, ob er bei mir wohnen könnte. Ich war ein bisschen skeptisch, das will ich zugeben. Ich kannte ihn ja eigentlich gar nicht. Aber ein Jahr zuvor war unsere Ma gestorben, und so ganz allein fühlte ich mich doch ziemlich einsam, also dachte ich, was soll denn schon passieren?«
    Sie zeigte drohend mit dem Zeigefinger auf Lennon.
    »Eins kann ich Ihnen allerdings sagen: Wenn ich etwas von dieser anderen Geschichte gewusst hätte, von wegen Gefängnis und Sexualstraftäter, dann hätte ich ihn nie und nimmer in meine Nähe gelassen. Aber als ich das dann erfuhr, war es ja schon zu spät.«
    Als Sissy mit ihrer Geschichte fertig war, wirkte sie so leer, als hätten ihre Worte ihr alle Luft ausgesaugt. Lennon überlegte, ob er die Vernehmung beenden sollte, aber er wusste, dass sie die einzige Verbindung zu dem Mann war, den er suchte.
    »Wie steht es mit Frauen?«, fragte er. »Hatte er hier irgendwelche Freundinnen? Hat er einmal eine mitgebracht? Oder besucht?«
    »Du lieber Himmel, nein!«, rief sie. »Außer, man zählt die kleine Mrs. Crawford mit.«
    »Mrs. Crawford?«
    »Ach, Gott erbarme sich ihrer. Sie wohnte in diesem großen Haus in der Cavehill Road. Ein schrecklich baufälliger Schuppen, stand auf der Ecke, und rings herum nichts als Unkraut. Ich bin ihr ein bisschen zur Hand gegangen, und dann hat Edwin für sie ein paar Sachen am Haus erledigt. Er hat sich ein bisschen mit ihr angefreundet. Das arme Wesen hatte doch einen Schlaganfall gehabt.«
    »Gab es sonst noch jemanden, für den er regelmäßig gearbeitet hat?«
    »Nein, nur für diesen alten Dreckskerl, der nach Spanien abgehauen ist.«
    »Lebt Mrs. Crawford noch?«, fragte Lennon.
    »Das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen«, antwortete sie. »Sie hatte dann noch einen zweiten Schlaganfall. Kurz bevor Edwin verschwunden ist, wurde sie ins Krankenhaus eingewiesen. Sie hat mich nie wieder kommen lassen, deshalb nahm ich an, sie ist in ein Pflegeheim gekommen.«
    »Wo war dieses Haus gleich?«, fragte Lennon.

TEIL 3
EDWIN

52
    In ihrer trüben Zwischenwelt zwischen Wachen und Träumen spürte Galya, dass sie in einer festen Umklammerung gefangen war. Arme wie Stein hatten sich um sie gelegt. Durch einen dichten Nebel taumelte sie dem Erwachen entgegen. Vor ihr ein Licht, das zuerst freundlich und einladend

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