Racheherz - Roman
saß, fernes Wasser nach den ersten Anzeichen der nächsten Wellenfront absuchte.
Ryan machte es nichts aus, dass Sam gelegentlich schwieg, und er vermutete, diese Stille hätte immer mit Gedanken an ihre Schwester zu tun, selbst dann, wenn sie Teresa nicht erwähnt hatte.
Sie waren eineiige Zwillinge gewesen.
Um Sam besser zu verstehen, hatte Ryan einiges über Zwillinge nachgelesen, die durch eine Tragödie auseinandergerissen worden waren. Anscheinend vermischten sich oft grundlose Schuldgefühle mit dem Kummer des Hinterbliebenen.
Manche sagten, die intensive Beziehung zwischen eineiigen Zwillingen, insbesondere zwischen Schwestern, könnte nicht einmal durch den Tod beendet werden. Einige beharrten sogar darauf, die Gegenwart der anderen weiter zu spüren, ähnlich wie Phantomschmerzen im Bein eines Amputierten.
Samanthas versonnenes Schweigen gab Ryan Gelegenheit, sie unverhohlen zu betrachten und zu bewundern, was unmöglich war, wenn sie merkte, dass er sie anstarrte.
Als er sie jetzt beobachtete, ließ ihn seine Bewunderung regungslos verharren. Er war nicht in der Lage, sein Weinglas zu heben, oder hatte zumindest kein Interesse daran. Nur seine Augen waren in Bewegung, glitten über die Konturen
ihres Gesichts und den anmutigen Schwung ihres Halses.
Sein ganzes Leben war ein Streben nach Perfektion, die es auf der Welt vielleicht gar nicht gab.
Manchmal stellte er sich vor, er käme ihr ganz nah, wenn er den Code für ein neues Programm schrieb. Eine exquisite digitale Schöpfung war jedoch so kalt wie eine mathematische Gleichung. Die anspruchsvollste Softwarearchitektur war ein Objekt reiner Präzision, nicht Perfektion, denn sie konnte keine intensive emotionale Reaktion hervorrufen.
In Samantha Reach hatte er eine Schönheit gefunden, die der Perfektion so nahe kam, dass er sich einreden konnte, sein Trachten sei von Erfolg gekrönt.
Während sie in den Baum aufblickte, sich dabei aber auf etwas konzentrierte, das weit jenseits der roten Geometrie dieser Äste lag, sagte Sam: »Nach dem Unfall hat sie einen Monat lang im Koma gelegen. Als sie daraus erwacht ist … war sie nicht mehr sie selbst.«
Die Glätte ihrer Haut ließ Ryan weiterhin schweigen. Es war das erste Mal, dass er etwas von Teresas Koma hörte. Und doch machte es ihm das Strahlen von Sams Gesicht unter der Liebkosung der späten Sonne unmöglich, etwas dazu zu bemerken.
»Sie musste immer noch über eine Magensonde ernährt werden.«
Die einzigen Schatten, die Samanthas Gesicht berührten, waren in ihr goldenes Haar geflochten und fielen auf ihre Stirn, als trüge sie als Anerkennung der Natur einen Kranz.
»Die Ärzte haben gesagt, das wäre ein Wachkoma gewesen.«
Ihr Blick senkte sich durch die Äste und heftete sich auf ein schimmerndes Kreuz aus Sonnenschein, das ein Strahl, der durch ihr Weinglas fiel, auf den Tisch projizierte.
»Ich habe den Ärzten nie geglaubt«, sagte sie. »Teresa war immer noch ganz in ihrem Körper. Sie war darin gefangen, aber immer noch Teresa. Ich wollte nicht, dass sie den Schlauch für die künstliche Ernährung rausziehen.«
Sie hob die Augen, um ihn anzusehen, und er musste an das anknüpfen, was sie gesagt hatte, und ein Gespräch daraus machen.
»Aber sie haben ihn trotzdem rausgezogen?«, fragte er.
»Und sie verhungern lassen. Sie haben gesagt, sie würde nichts fühlen. Angeblich sorgte der Hirnschaden dafür, dass sie keine Schmerzen hatte.«
»Aber du glaubst, dass sie gelitten hat.«
»Ich weiß es. Am letzten Tag, in der letzten Nacht, habe ich bei ihr gesessen und ihre Hand gehalten und ich konnte fühlen, dass sie mich angesehen hat, obwohl sie die Augen nie geöffnet hat.«
Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte.
Samantha nahm ihr Weinglas in die Hand und verwandelte das Kreuz aus Licht in einen Pfeil, der kurz wie eine Kompassnadel zitterte und in Ryans Augen den geografischen Norden suchte.
»Ich habe meiner Mutter eine Menge verziehen, aber das, was sie Teresa angetan hat, werde ich ihr niemals verzeihen.«
Als Samantha einen Schluck Wein trank, sagte Ryan: »Aber ich dachte … deine Mutter sei bei dem Unfall dabei gewesen.«
»War sie auch.«
»Ich hatte geglaubt, sie sei bei dem Unfall ebenfalls gestorben. Rebecca. Hieß sie nicht so?«
»Sie ist auch gestorben. Für mich jedenfalls. Rebecca ist in einem Apartment in Las Vegas begraben. Sie läuft durch die Gegend und redet und atmet, aber tot ist sie trotzdem.«
Samanthas Vater hatte die Familie
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