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Racheherz - Roman

Racheherz - Roman

Titel: Racheherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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hätte. Ismay sei nicht ganz so sehr in alles Viktorianische vernarrt gewesen wie Ismena, aber wie die ganze Familie Moon sei auch sie eine begeisterte Leserin gewesen und ihre Lieblingsbücher und ihre liebsten Autoren stammten weitgehend aus dem neunzehnten Jahrhundert und zählten vorwiegend zur viktorianischen Literatur.
    Ismena deutete auf eine behagliche Nische, die vom Wohnzimmer abging und von Bücherregalen umgeben war. Dort standen zwei Ledersessel und Leselampen. »Sie war
nie glücklicher, als wenn sie mit einem Buch in einem dieser Lehnstühle saß.«
    Während Ismena noch sprach, war Ryan aufgestanden, um sich die Titel der Bücher anzusehen, dabei entdeckte er Gesamtausgaben von Dickens und Wilkie Collins.
    Als er zum nächsten Regal weiterging, machte er einen Bogen um eine weiße Marmorbüste, die auf einem Podest stand.
    Ismena sagte: »Die mochte sie besonders gern. Sie musste sie natürlich über der Wohnzimmertür anbringen, genau wie in dem Gedicht, aber mir ist überhaupt nicht wohl dabei zumute, ein so schweres Ding über meinem Kopf hängen zu haben.«
    »Wie in welchem Gedicht?«, fragte Cathy.
    »›Der Rabe‹«, sagte Ismena. »Poe war ihr absoluter Liebling, aber mehr die Gedichte als die Erzählungen.«
    Während sie das sagte, erreichte Ryan die Werke von Poe.
    Ismena zitierte die Verse aus dem Gedächtnis: »›Und der Rabe flattert nimmer, sitzt noch immer, sitzt noch immer/ Auf der Pallas’ fahler Büste, über meiner Kammertür.‹«
    Das Versmaß, die eindringlichen Wiederholungen, die Reime und die Alliterationen verbündeten sich miteinander, um Ryan einen Moment lang den Atem zu verschlagen, nicht, weil ihm das Gedicht neu gewesen wäre - das war es nicht - und nicht nur, weil es lyrisch und brillant war, sondern auch, weil Poes unverwechselbarer Stil, seine ureigene Stimme, genau zu den seltsamen Ereignissen der letzten sechzehn Monate zu passen schien.
    Er zog gerade einen Band aus dem Regal, der Poes gesammelte Gedichte enthielt, und eine noch stärkere Ahnung des Unheimlichen beschlich Ryan, als er Cathy, von der
Stimmung des Augenblicks angesteckt, zitieren hörte: »›Einstmals saß ich trüben Sinnes grübelnd wach um Mitternacht, / Las in wundersamen Wälzern längst vergessne Weisheit nach …‹«
    »›… Nickte ein, war sanft entschlummert, als mir deucht’, ich hört’ es wummernd/Pochen an der Kammertür‹«, fuhr Ismena begeistert fort, »›Als ob draußen jemand pochte, pochend wollt’ zur Tür herein.‹«
    »Ich bin nicht sicher, ob ich mich erinnere«, sagte Cathy, »aber vielleicht … »›Dieses Pochen«, sprach ich, »kann doch wohl nur ein Besucher sein/Der da pocht an meine Türe, dieses nur, dies ganz allein?‹«
    »Aber es kann gewiss nicht nur irgendein Besucher sein, oder?«, fragte Ismena. »Nicht in einem Werk, das Mr Poes Feder entstammt.«
    Das Pochen.
    Ismay hatte von dem Pochen gewusst.
    Nach der Biopsie, als er im Vorbereitungsraum geschlummert hatte, hatte sie zu Ryan gesagt: Du hörst ihn, nicht wahr, Junge? Ja, du hörst ihn.
    Er verstand nicht, wie sie von dem Pochen gewusst haben konnte, aber das war natürlich nicht ganz so schwer zu beantworten wie die Frage, warum sie fast zwei Jahre nach ihrem Tod da gewesen war.
    Du darfst nicht auf ihn hören, Junge.
    Jetzt schlug er den Gedichtband an einer zufälligen Stelle auf - und las den Titel »Die Stadt im Meer«.
    »Ismay konnte sämtliche Gedichte von Mr Poe auswendig - mit Ausnahme von ›Al Aaraaf‹. Sie konnte sich einfach nicht dazu durchringen, dieses Gedicht zu mögen.«
    Ryan überflog die ersten Zeilen von »Die Stadt im Meer«
und fand etwas, das er unbedingt laut vorlesen musste: »›Doch empor aus dem Meere, dem schaurig fahlen,/Strömt an Türmen hinauf, an prächtigen Hallen, /An der Festungen Wälle, an Zinnen stumm/Bleicher Lichtschein auf mancherlei Heiligtum …‹«
    Seine Stimme musste gebebt oder auf andere Weise seine Furcht verraten haben, denn Ismena Moon sagte: »Geht es Ihnen nicht gut, Mr Perry?«
    »Ich hatte einen Traum in dem es so aussah«, sagte er. »Mehr als einmal.«
    Nachdem er weitere Zeilen überflogen hatte, blickte er auf, und ihm wurde bewusst, dass die beiden Frauen eine Erklärung von ihm erwarteten.
    Statt ihnen Aufschluss zu geben, sagte er: »Ms Moon, wie ich sehe, besitzen Sie ein halbes Dutzend Exemplare von Poes gesammelten Gedichten.«
    »Ismay hat sie immer wieder gekauft, jedes Mal, wenn sie eine neue Ausgabe mit anderen

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