Racheherz - Roman
und so die Entdeckung von Ismay Clemms Foto zwölf Klarsichthüllen weiter hinten um sechzehn Monate verzögert hatte.
Das vorletzte Gedicht in dem Buch, das den Titel »Die Glocken« trug, rief ihm etwas anderes ins Gedächtnis zurück, das Ismay zu ihm gesagt hatte. Er hörte ihre Warnung jetzt fast so deutlich, als sei sie gemeinsam mit ihm hier in diesem Hotelzimmer.
Wenn du die eisernen Glocken hörst, kommst du zu mir.
Poes »Die Glocken« war in vier Abschnitte untergliedert und Ryan las sie mit wachsender Unruhe. Im ersten wurden die fröhlichen Glöckchen an weihnachtlichen Schlitten bejubelt. Der zweite befasste sich mit der Harmonie von Hochzeitsglocken. Der dritte Teil nahm eine finstere Wendung und schilderte die Feueralarmglocken und die menschliche Tragödie, die sie vorhersagen konnten.
Der vierte Teil sprach von eisernen Glocken, die hoch oben in einer Kirche von Dämonen geläutet wurden, und von der melancholischen Drohung ihres Klangs.
»›Ist doch jedes entschwebende Tönen‹«, las er laut, »›ihrer rostigen Kehlen ein Stöhnen!‹«
Die Worte gesprochen zu hören verstörte ihn mehr, als sie gedruckt zu lesen, daher verstummte er.
Die außergewöhnlichen Rhythmen, Reime und Wiederholungen des restlichen Gedichts ließen ihn die Kakophonie und das Chaos der läutenden Glocken noch einmal vernehmen, die ihn in der Nacht vor seiner Transplantation in dem Krankenhausbett geweckt hatten.
Er konnte das Zimmer vor sich sehen, konnte es riechen, es hören, Wally am Fenster, wie er hinabblickte, hinab, hinab in Wellen aufsteigenden Schalls, ein Schimmer auf jedem Gegenstand, sogar die Schatten besaßen einen Glanz, und der Schauer der Glocken in seinen Knochen, in seinem Blut, wie sie zähflüssig durch sein Blut hallten, und der Geruch
nach Rost, ein roter, bitterer Staub, in Wellen über ihn hinwegschwappend, eine Woge nach der anderen, schwere, warnende Wogen.
Schließlich legte er das Buch zur Seite.
Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Er wollte nicht wissen, was er davon halten sollte.
Er wusste, dass er keinen Schlaf finden würde. Nicht in seiner derzeitigen Verfassung.
Aber er sehnte sich verzweifelt nach Schlaf, nach traumlosem Schlaf. Es war ihm unerträglich, wach zu sein.
Dann tat er etwas, das Dr. Hobb nicht gutgeheißen hätte, nicht bei ihm und auch bei keinem anderen Empfänger eines verpflanzten Herzens. Er plünderte die Minibar und knallte sich mit Gin-Tonics zu, bis er endlich einschlief.
50
In dem Learjet saß Ryan anfangs getrennt von Cathy Sienna. Da er mit einem Kater aufgewacht war und einige Zeit gebraucht hatte, um seine Kopfschmerzen zu vertreiben, seinen Magen mit fadem Essen zu beruhigen und sich einigermaßen wiederherzustellen, hatten sie Denver erst spät verlassen. Beim Beschleunigen auf der Startbahn, beim Abheben und in der extremen Schräglage über den Rockies hatte er befürchtet, das Frühstück käme ihm wieder hoch. Daher hatte er es vorgezogen, den Beginn der Reise allein durchzustehen.
Als sie ohne Zwischenfälle ihre Reiseflughöhe erreicht hatten, ging er zu ihr. Die Anordnung der Sitze im Jet war für Konferenzen gedacht. Er nahm ihr gegenüber Platz, und nachdem sie einen Absatz zu Ende gelesen hatte, blickte sie von einer Zeitschrift auf.
»Ihre Selbstbeherrschung ist außerordentlich«, sagte er.
»Warum? Nur weil ich weitergelesen und Sie zehn Sekunden habe warten lassen?«
»Nein. Sie sind in jeder Hinsicht sehr beherrscht. Wie Sie sich den Anschein geben, überhaupt nicht neugierig zu sein, ist besonders beeindruckend.«
»Mr Perry, das Leben konfrontiert uns Tag für Tag mit viel mehr, als wir verstehen können. Wenn ich allem nachjagen würde, das mich neugierig macht, hätte ich keine Zeit für den Teil des Lebens, den ich verstehe.«
Der Flugbegleiter kam, um zu fragen, ob sie gern einen
Snack oder Getränke hätten. Ryan bestellte eine Bloody Mary, um seinen Kater zu vertreiben, und Cathy bat um schwarzen Kaffee.
»Wie dem auch sei«, fuhr sie fort, nachdem der Flugbegleiter gegangen war, »die Erkenntnis, was wichtig ist, stellt sich von selbst ein, wenn man genügend Geduld aufbringt.«
»Und was ist Ihnen wichtig, Cathy?«
Sie hatte die Zeitschrift in der Hand gehalten und mit einem Finger die Seite markiert, als rechnete sie damit, gleich weiterzulesen. Jetzt legte sie das Magazin beiseite.
»Ich möchte Sie nicht kränken, aber unter den Dingen, die mir die wichtigsten sind, ist nichts, worüber ich
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