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Racheherz - Roman

Racheherz - Roman

Titel: Racheherz - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heyne
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Erklärungen?«
    »Was für andere Erklärungen?«
    Sie zuckte die Achseln. »Die anderen Erklärungen, die Sie nicht in Betracht ziehen wollten.«

    Ihre Antwort beunruhigte Ryan und plötzlich beunruhigte ihn auch der Friedhof.
    »Ich würde wetten, dass sie hier begraben ist«, sagte er.
    »Sie meinen Ismay Clemm?«
    »Ja.«
    »Wollen Sie sich auf die Suche nach ihr machen?«
    Ryan sah die Grabsteine im Schnee an, verzog das Gesicht und sagte: »Nein. Nicht im Dunkeln.«
    An der ersten Querstraße standen bis zur nächsten Kreuzung nur auf einer Seite Häuser, mit Blick auf den Friedhof.
    Das sechste Haus, ein viktorianisches Gebäude mit verschnörkelten Kranzleisten und Simsen, gehörte Ismena Moon. Auf der Veranda brannte zu ihrer Begrüßung Licht.
    Spitzengardinen an den Sprossenfenstern und ein Türklopfer aus Messing in Form eines umkränzten Cherubs, der ein Diadem in beiden Händen hielt, gaben einen Vorgeschmack auf die Inneneinrichtung.
    Eine schlanke, attraktive Frau von Mitte sechzig öffnete ihnen die Tür. Sie hatte weißes Haar, einen Teint in der Farbe von hellem Milchkaffee und große, strahlend braune Augen. Ihre vernünftigen schwarzen Ausgehschuhe mit Blockabsätzen, das blaue Viskosekleid mit dem hochgeschlossenen runden Ausschnitt und einem schmalen weißen Kragen, weißen Manschetten und gerafften Ärmeln ließ vermuten, dass sie erst vor kurzer Zeit von einer Abendandacht oder einem anderen Gottesdienst zurückgekehrt war.
    »Guten Abend, Ma’am. Ich bin Ryan Perry und das ist meine Mitarbeiterin Cathy Sienna. Wir haben einen Termin mit Ismena Moon vereinbart.«
    »Das bin dann ich«, sagte die Frau. »Es freut mich sehr,
Sie kennenzulernen. Kommen Sie herein, kommen Sie herein, so, wie Sie angezogen sind, holen Sie sich bei diesem Wetter da draußen noch eine Lungenentzündung.«
    Ismena und Ismay waren weder ein- noch zweieiige Zwillinge gewesen.

48
    Das Wohnzimmer war komplett im viktorianischen Stil eingerichtet: mit Blümchentapete, schweren kastanienbraunen Samtvorhängen mit Borten und Quasten, dazu Spitzengardinen, mit schmiedeeisernem Kamin samt Kesseleinsatz und Einfassung und Sims aus schwarzem und goldenem Marmor; eine Etagère war mit einer Sammlung von Glasfigürchen befüllt; es gab zwei Chesterfield-Sofas, Pflanzenständer mit Farnen, Skulpturen auf Podesten, einen Beistelltisch, über den ein kastanienbraunes Tuch drapiert war, darauf noch ein gehäkeltes Zierdeckchen; darüber hinaus war alles vollgestellt mit einem grandiosen und präzise arrangierten Sammelsurium aus Porzellanbüsten, Porzellanvögeln, Fotografien in verschnörkelten Rahmen und Schnickschnack aller Art.
    Ismena Moon kochte Kaffee, den sie dann aus einer silbernen viktorianischen Kanne einschenkte. Dazu servierte sie eine reichliche Auswahl exotischer Plätzchen.
    Ryan hatte damit gerechnet, in einer fünfzehnminütigen Unterhaltung zur Wahrheit hinter den Ereignissen an dem Tag vordringen zu können, als Dr. Gupta die myokardiale Biopsie bei ihm vorgenommen hatte. Ismena dagegen hatte sich den Besuch als Gelegenheit für ein ausgiebiges geselliges Beisammensein vorgestellt, angeregt durch eines ihrer Lieblingsthemen - ihre Schwester Ismay. Sie war eine ganz reizende Frau und von einer solchen Herzensgüte, dass Ryan es nicht fertigbrachte, sie zu enttäuschen.

    Außerdem war seine Theorie mit den eineiigen Zwillingen geplatzt wie ein Heißluftballon, der von einem spitzen Kirchturm aufgespießt wird. Er brauchte eine rationale Erklärung dafür, wie eine Frau, die einundzwanzig Monate zuvor gestorben war, an jenem Tag mit ihm hatte sprechen können. Als er herausfand, dass es eine dritte Schwester gab, Ismana, regte sich einen Moment lang die Hoffnung in ihm, sie sei Ismays Zwillingsschwester, aber sie war die Älteste von den dreien und schon vor Ismay gestorben.
    »Ich kann verstehen, dass die Ähnlichkeit der Namen Sie auf den Gedanken gebracht hat, Sie könnten es mit Zwillingen zu tun haben«, sagte Ismena. »Aber wissen Sie, das sind alles nur Formen von Amy , einem Namen, der in der viktorianischen Epoche recht beliebt war und von dem man viele andere Namen abgeleitet hat. Amia. Amice, Esmee und so weiter.«
    Viktorianische Antiquitäten, erklärte Ismena, hätten die Familie Moon schon zu Lebzeiten ihres Großvaters interessiert. Dr. Willard Moon sei einer der ersten schwarzen Zahnärzte westlich des Mississippi gewesen, dessen Patientenstamm sich vorwiegend aus Weißen zusammengesetzt

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