Racheherz - Roman
ohne weiteres mit einem Fremden in einem Flugzeug reden würde, nur um sich die Zeit zu vertreiben.«
»Sind wir einander denn so fremd?«
»Nicht ganz.« Mehr gestand sie ihm nicht zu.
Er musterte sie unverhohlen - ihr glänzendes dunkles Haar, ihre hohe Stirn, die weit auseinanderstehenden Augen und die tiefen Augenhöhlen, die Nase mit der liebenswerten kleinen Krümmung, die sinnlichen Lippen, das stolze Kinn, die kräftige und doch feminine Mundpartie - und sah dann wieder in ihre granitgrauen Augen, die ihm das Gefühl gaben, sie hätte ihn auf der kalten Granitplatte eines Bäckers so dünn ausgerollt wie Blätterteig. Obwohl sie attraktiv war, fehlte ihr Samanthas physische Perfektion. Doch etwas an ihr überzeugte ihn davon, dass sie Sam in entscheidenden Dingen genug ähnelte, um ihre Zwillingsschwester sein zu können. Vermutlich fühlte er sich deshalb bei ihr so wohl.
»Vor einem Jahr hatte ich eine Herztransplantation«, sagte er.
Sie wartete.
»Ich bin froh, dass ich noch am Leben bin. Ich bin dankbar. Aber …«
Er zögerte so lange, dass der Flugbegleiter mit der Bloody Mary und dem Kaffee zurückkam, bevor er weitersprach.
Sowie er den Cocktail in der Hand hielt, wollte er ihn nicht mehr. Er stellte das Glas in einen Getränkehalter in der Armlehne seines Sitzes.
Während Cathy ihren Kaffee trank, sagte Ryan: »Das Herz, das ich erhalten habe, stammte von einer jungen Frau, die bei einem Autounfall ein schweres Schädeltrauma davongetragen hat.«
Cathy wusste, dass ihm die tote Ismay - oder jemand, der sich als sie ausgab - vor der Transplantation erschienen war, und sie wusste, dass er einen Traum, vielleicht auch mehrere, gehabt hatte, die etwas mit der Krankenschwester zu tun hatten. Jetzt konnte Ryan sehen, wie sie diese Informationen mit kleineren Details, die ihr bekannt waren, und mit Schlussfolgerungen, die sie selbst gezogen hatte, zu einem Bild zusammensetzte, aber sie stellte immer noch keine Fragen.
»Sie hieß Lily«, fuhr er fort. »Jetzt hat sich herausgestellt, dass sie eine Schwester hat, eine eineiige Zwillingsschwester.«
»Sie waren sich auch sicher, dass Ismay eine Zwillingsschwester haben müsste.«
»Ich dachte, eineiige Zwillinge seien das Thema und ich müsste hinter die Bedeutung des Themas kommen. Aber vielleicht sind Zwillinge nichts weiter als ein Motiv.«
Die Begriffe, die er verwendete, wunderten sie offensichtlich, doch sie sagte noch immer nichts.
»Jedenfalls«, fuhr er fort, »ist Lilys Schwester … ich glaube, dass sie den Wagen gefahren hat, als der Unfall passierte.«
»Das könnten wir ohne großen Aufwand herausfinden. Aber warum spielt es eine Rolle?«
»Ich glaube, sie wird von Schuldgefühlen aufgefressen. Von Schuldgefühlen, die sie nicht ertragen kann. Daher greift sie auf das zurück, was Psychiater als Übertragung bezeichnen.«
»Sie überträgt ihre Schuld auf Sie.«
»Ja. Da ich Lilys Herz erhalten habe, gibt die Schwester mir die Schuld daran, dass Lily tot ist.«
»Ist sie gefährlich?«
»Ja.«
»Das ist keine Angelegenheit, die man ausschließlich privaten Sicherheitsdiensten überlassen sollte. Verständigen Sie die Polizei.«
»Es widerstrebt mir, das zu tun.«
Ihre grauen Augen schienen jetzt den Farbton der Schneewolkenschicht angenommen zu haben, über die sie flogen, und er konnte ebenso wenig unter die Oberfläche ihres Blicks schauen, wie er das Land unter der Wolkendecke sehen konnte.
In ihr Schweigen hinein sagte er: »Sie fragen sich bestimmt, warum es mir widerstrebt. Das frage ich mich auch.«
Er sah durch das Fenster neben sich hinaus.
Schließlich sagte er: »Vermutlich liegt es daran, dass ich zumindest ein gewisses Verständnis für sie habe. Für ihre Gefühle.«
Und ein Stück weiter zwischen den Winterwolken und der grellen Sonne sagte er: »Als ich mich darauf eingelassen habe, war ich mir nicht über die emotionale Last klar, die damit einhergeht … mit dem Herzen eines anderen Menschen zu leben. Es ist ein fantastisches Geschenk, aber … es ist auch eine schreckliche Bürde.«
Die ganze Zeit über hatte er aus dem Fenster gesehen und sie hatte ihn weiterhin beobachtet. Als er sich jetzt wieder zu ihr umdrehte, sagte sie: »Warum sollte es eine Bürde sein?«
»So ist es nun mal. Es ist, als sei man … eine Verpflichtung eingegangen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Person zu leben, die einem ihr Herz gegeben hat.«
Cathy blieb so lange stumm und hielt ihren Blick starr
Weitere Kostenlose Bücher