Racheherz - Roman
liebsten laut geschrien hätte, um seiner Wut Luft zu machen. Stattdessen
nahm er wieder Samanthas Buch zur Hand, um sich abzulenken.
Am früheren Abend hatte er bei seiner dritten Lektüre das siebenundzwanzigste von sechsundsechzig Kapiteln erreicht. Jetzt verhexte ihn Sams Prosa wieder binnen eines einzigen Absatzes.
Während ihrer Arbeit an dem Buch hatte sie einmal über Subtext gesprochen. Er wusste, was das war - die tiefere, hintergründige Bedeutung einer Geschichte, die der Autor nie direkt ausspricht. Nicht jedes Prosawerk besaß einen Subtext; vielleicht hatten sogar die meisten Romane keinen.
Samantha sagte, Leser müssten den Subtext nicht bewusst wahrnehmen, um eine Geschichte voll und ganz auszukosten, denn wenn die Geschichte gut erzählt sei, würden sie den eigentlichen Sinn unterbewusst aufnehmen. Tatsächlich konnte die emotionale Wirkung des Subtexts oft stärker sein, wenn der Leser ihn nicht in Worte zu fassen vermochte, wenn er ihn hart traf und er doch nicht ganz verstand, was ihm da eigentlich um die Ohren geschlagen worden war.
Subtext konnte viele Schichten haben, sagte sie, tiefere Bedeutungen, die übereinander gelegt waren wie bei luftigem Blätterteiggebäck.
Ryan glaubte, den primären Subtext ihres Romans verstanden zu haben. Aber er ahnte, dass es noch andere Schichten gab, deren Bedeutung sich ihm nicht erschloss.
Das war ihm insbesondere deshalb wichtig, weil er ahnte, dass in diesen Tiefen der Erzählung eine Enthüllung wartete, die erklären konnte, warum sie weiterhin getrennt waren, obwohl sie einander liebten. Warum sie seinen Heiratsantrag nicht sofort angenommen hatte. Und warum sie ihn möglicherweise niemals annehmen würde.
Die Enthüllung war jedoch so schwer zu fassen, dass er ein Fischer hätte sein können, der eine Angelschnur ohne Haken und ohne Köder auf der Suche nach einem Fisch auswarf, der niemals Futter brauchte.
Schließlich legte er das Buch zur Seite und sah auf den Bildschirm des stummen Fernsehers, den er nicht ausgeschaltet hatte. Reiter rasten unter der endlosen Weite des Himmels durch öde Prärien, durch purpurnen Salbei, vorbei an roten Felsen, die die Erosion geformt hatte. Dabei feuerten sie wie verrückt aus ihren Gewehren, aber ohne das Klappern von Hufen oder das Knallen von Schüssen, ohne jegliches wildes Geschrei.
Er lauschte auf Geräusche im Haus und wartete auf leise Schritte, auf das Rascheln eines Kleidungsstücks, auf das Klicken des Hahns seiner gestohlenen Pistole und darauf, dass sein Name von einer Stimme geflüstert wurde, die er zwar nicht bewusst wiedererkennen würde, die seinem Herz aber dennoch vertraut war.
Er hatte zu lange in Todesangst gelebt, um sich von ihr wach halten zu lassen. Mit der Zeit wurde er schläfrig.
Er hoffte, er würde träumen. Er hatte seit einem Jahr nicht mehr geträumt. Sogar die schlimmen Träume, die ihn geplagt hatten, wären ihm willkommen gewesen, einfach um der Beschaffenheit willen, die sie seinem Schlaf geben würden.
38
Das Plakat im Schaufenster der Buchhandlung zeigte ein Foto von Samantha und das Titelbild ihres Romans. Ein Schriftband kündigte an, sie würde am heutigen Tag von zwölf bis zwei Uhr nachmittags Bücher signieren.
Ryan war die Ankündigung schon vor Tagen aufgefallen. Als er sie sah, hatte er sich gesagt, er dürfe nicht herkommen, doch er hatte gewusst, dass er da sein würde.
Jetzt trug er das Exemplar ihres Buchs bei sich, das er am Tag der Erstauslieferung des Romans an die Buchhandlungen erworben hatte. Er wollte mehr als ein Autogramm.
Seit er das letzte Mal hier gewesen war, hatte man ein zweites kleineres Poster neben dem ersten aufgehängt: NEW YORK TIMES BESTSELLER!
Er hatte nicht gewusst, dass das Buch ein solcher Erfolg war.
Plötzlich brandeten Gefühle in ihm auf, aber nicht schön hintereinander wie eine Wellenfront, sondern alle auf einmal. Er war stolz auf sie, so stolz, dass ihm danach zumute war, x-beliebige Passanten anzuquatschen und ihnen zu beteuern, dass sie einzigartig und nett war und den Erfolg verdient hatte, aber gleichzeitig versetzte ihm das Bedauern einen Stich, weil er nicht bei ihr gewesen war, als sie die Neuigkeit erfahren hatte oder als sie ihre erste gute Kritik bekommen hatte. Ein unerklärliches Schuldbewusstsein überfiel ihn, doch gleichzeitig wurde er auch von einer Woge mitgerissen, die ihm mehr als alles andere, was er seit langer Zeit empfunden hatte, wie Glück vorkam.
Unter der fett gedruckten
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