Rachekind: Thriller (German Edition)
Neue heult immer noch. Wir waren alle gespannt, wen der Alte zu uns aufs Zimmer legen würde. Luke hat noch Witze gerissen, heute früh, als das leere Bett neu überzogen wurde, obwohl wir gewusst haben, dass niemand das Loch stopfen kann, das Marcus’ Tod in unsere Clique gerissen hat. Der Neue ist ziemlich übel zugerichtet. Über dem Auge hat er eine frische Naht, da sind noch die Fäden drin, und als er sich vorhin den Schlafanzug angezogen hat, hab ich die blauen Flecken gesehen. Von der Schulter bis zur Hüfte praktisch ein einziger riesiger Fleck und am Oberarm auch. Möchte nicht wissen, womit sein Alter den geschlagen hat. Wieder einer, der seinen Eltern weggenommen wurde, willkommen im Club. Trotzdem wird er bei uns keinen Fuß auf den Boden bekommen, das hab ich Luke angesehen. Sein Blick war eindeutig, wir brauchen keine Worte mehr, um uns zu verstehen. Babyfurzer, hat Luke mir zugeraunt, als wir aus dem Zimmer sind und ihn in seinem Elend zurückgelassen haben. Im Hof haben wir dann Wetten abgeschlossen, wie lange er für seinen Brei brauchen wird. Ich hab auf drei Mahlzeiten getippt, mehr braucht er nicht, dann hat der Alte ihn weich. Zweimal hat er schon verweigert. Wenn er ihn morgen früh nicht isst, ist mein Einsatz futsch. Ich muss ihn mir vor dem Frühstück noch mal krallen und ihm genau erklären, wie das läuft. Du kriegst hier nichts zu essen, bis du deinen Willkommensbrei gegessen hast, der ist scheißeklig, versalzen, angebrannt, und wenn du großes Pech hast, haben sie in der Küche noch ein paar Mehlwürmer gefunden. Je früher du kapierst, dass er wegmuss, und zwar in deinen eigenen Scheißbauch, desto schneller bekommst du was Ordentliches zwischen die Zähne. Initiierung nennt der Alte das. Ich geb ihm also morgen einen freundschaftlichen Tipp, so unter Zimmernachbarn, und gut is. Und mit etwas Glück schnallt er’s, und ich habe die Wette in der Tasche. Muss nur aufpassen, dass Luke das nicht merkt, sonst denkt der noch, ich hätte Mitleid mit dem Neuen.
Dieses Scheißgeflenne geht mir langsam echt auf den Sack. Denkt der, er ist der Einzige hier im Zimmer? Gut, dass Luke schon schläft. Ist kein Paradies hier, das wissen wir alle. Und weg wollen wir auch alle, aber die meisten von uns kommen auch nicht gerade aus dem Paradies. Hier auf dem Zimmer gibt’s keinen, der zu Hause nicht geschlagen worden ist. Manche weniger, andere mehr. Ich weiß gar nicht mehr so genau, wie’s bei mir war. Ich kann mich kaum noch an meinen Vater erinnern, aber geschlagen hat er mich wohl. Ziemlich übel sogar, sonst hätte das Jugendamt mich nicht hierhergebracht, nachdem meine Mutter an einer Überdosis krepiert ist. Is hier also nicht schlimmer als woanders, nur hier kriegt man wenigstens dreimal am Tag was zwischen die Zähne, und man hat immer saubere Klamotten und ein warmes Bett. Ich hatte das früher nicht, weder das Essen noch die sauberen Klamotten und das warme Bett. Ich weiß noch, wie viel Angst ich hatte, als ich hier angekommen bin. Ich hab mir sogar meine Scheißeltern zurückgewünscht. Aber meine erste Nacht in einem warmen Bett, das nicht nach Pisse gestunken hat, war ziemlich beeindruckend.
Endlich ist er still. Wohl eingeschlafen. Dann hör ich jetzt auf zu schreiben, ich muss dringend schlafen, morgen schreiben wir Mathe.
Samstag, 21. Mai
5
»Kommt ein Mäuschen …« Hannas Finger krabbelten über Lilous Beine zu ihrem Bauch hinauf. Lilou lag ruhig auf der Wickelkommode. Als würde sie die Finger ihrer Mutter gar nicht spüren, griff sie nach der Cremedose und betrachtete sie von allen Seiten.
»Was ist nur los mit dir, Püppchen? Willst du gar nicht mehr spielen?«
Hannas Kehle wurde eng. Alles in ihr drängte darauf, Lilou zu packen und mit ihr ins Krankenhaus zurückzufahren, sie erneut untersuchen zu lassen, eine Erklärung für das veränderte Verhalten zu finden. Nur würde es nichts bringen. Die Schwester hatte ihr am Telefon deutlich zu verstehen gegeben, dass es sich bei Lilous Verhaltensänderungen nicht um einen Notfall handle und am Wochenende nur Notfälle aufgenommen werden konnten. Sie solle am Montag kommen, da sei der behandelnde Arzt wieder im Hause. Montag. Es schien unendlich weit weg, während die Angst in ihr mit jeder Minute wuchs, ihre Gedanken überwucherte, wie das Efeu Oma Wilmis Haus, und sie zwang, Lilou mit Argusaugen zu beobachten. Sie nahm Lilou die Cremedose ab und erwartete heftigen Protest. Doch anstatt sie wie sonst festzuhalten, gab sie
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