Rachekind: Thriller (German Edition)
dabei von ihr beobachtet zu werden. Die Minuten verstrichen, keiner sprach, nur aus dem Fernseher drang leise die Unterhaltung eines Moderators mit seinem Studiogast. Hanna glaubte die Spannung knistern zu hören, die sich im Raum ausgebreitet hatte. Selbst Lilou verhielt sich völlig still. Ihr Gesicht war Mary zugewandt, und sie schien sie aufmerksam zu beobachten.
Schließlich brach Mary das Schweigen. Ihre Stimme war zittrig, wie die einer sehr alten Frau, und gleichzeitig so bestimmend, als dulde sie keinen Widerspruch. »Komm näher, Hanna, lass mich meine Enkelin ansehen.«
Hanna sah auf. Mary winkte sie zu sich, obwohl sie kaum einen Meter von ihr entfernt stehen geblieben war.
Behutsam stellte Hanna Lilou auf den Boden und ging mit ihr zu Mary, die sich in ihrem Stuhl nach vorne beugte und Lilou sanft über den Kopf streichelte. »Lilou. Was für ein schöner Name.«
Das verräterische Glitzern in Marys Augen verriet das Ausmaß der Enttäuschung, die sie zu verbergen suchte. Hanna biss sich auf die Lippe. Sie hätte wissen müssen, was sie Steves Mutter mit ihrem Besuch antun würde. Sie hätte die Reise niemals antreten dürfen. Lilou streckte ihre Arme nach Mary aus.
»Geht das?«, fragte Hanna und setzte sie auf Marys Knie. Sie blieb dicht neben ihr stehen.
»Du bist also mein Enkelkind«, flüsterte Mary und küsste Lilou auf ihr Haar. »Mein Enkelkind.« Tatsächlich liefen ihr jetzt Tränen über die Wangen, doch sie machte keine Anstalten sie wegzuwischen. Sie hielt Lilou mit beiden Händen fest, als sei sie der kostbarste Schatz der Welt, den es um jeden Preis zu verteidigen galt.
Lilou ließ Marys Liebkosungen gutmütig über sich ergehen und kuschelte sich so entspannt an ihre Brust, als hätte sie instinktiv erkannt, dass Mary ihre Großmutter war und sie bei ihr die gleiche Sicherheit erfahren würde wie bei Hanna selbst. Die Vertrautheit, mit der Lilou und Mary zusammen in dem Rollstuhl saßen, erschreckte und freute Hanna zugleich. Sie wagte nicht, dieses erste, wortlose Kennenlernen von Großmutter und Enkelin zu stören. Gleichzeitig brannte sie darauf, Mary und George endlich mit Fragen zu Steve zu überhäufen.
Nach ein paar Minuten fragte George. »Hast du ein Foto von Stevie? Wir haben ihn schon sehr lange nicht mehr gesehen.«
Froh über seine Frage, kramte Hanna hektisch in ihrer Tasche, zog dann das Foto heraus, auf dem er mit Rob abgebildet war, und hielt es George hin. Sie hatte keine besondere Reaktion erwartet, vielleicht einen Kommentar zu seiner Frisur oder darüber, dass er älter, dünner oder dicker geworden war, vielleicht eine verstohlene Gefühlsregung beim Anblick seines Sohnes. Ungläubig verfolgte sie die Veränderung in Georges Gesicht. Seine Augen verengten sich, die buschigen Brauen trafen sich in der Mitte wie zornige Gewitterwolken, bei deren Zusammenstoß eine unvorstellbar zerstörerische Energie die Erde treffen würde. George schleuderte ihr das Foto vor die Füße.
»Wer soll das sein?«, brüllte er sie an. »Das ist niemals Stevie!«
Er riss Lilou von Marys Schoß und drückte sie Hanna in den Arm. »Ich weiß nicht, was für ein Spiel das hier sein soll, aber es hat sich ausgespielt, hast du gehört? Hier gibt es nichts zu holen. Verlass sofort unser Haus.«
Sprachlos ließ Hanna sich von George in den Flur schieben. Sein Ausbruch verängstigte sie. Verstörte sie. George schubste sie unsanft Richtung Haustür. Sie stolperte durch den düsteren Flur. Steve war nicht ihr Sohn? Unmöglich! Zwei Steve Warringtons in Combe Martin, die beide den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen hatten. So viel Zufall gibt es nicht . Lilou begann schrill zu weinen und beugte sich dann mit ihrem Oberkörper abrupt so weit nach hinten, dass sie fast heruntergefallen wäre.
»George!«
Unter Lilous Gebrüll hatte Hanna das Surren von Marys Rollstuhl nicht gehört. Sie musste ihnen hinterhergefahren sein, und die Schärfe in ihrer Stimme ließ Hanna zusammenzucken. Georges Hand rutschte von ihrer Schulter.
»Du benimmst dich unmöglich. Ich wünsche, dass Hanna und Lilou bleiben, hörst du?« Mary übertönte Lilous Geschrei, als benutze sie ein Megafon. »Du glaubst mal wieder, alles zu wissen, dabei weißt du gar nichts.«
Hanna blieb so abrupt stehen, als hätte eine Ampel vor ihr auf Rot geschaltet. Sie drehte sich zu Mary um, und sofort hörte Lilou auf zu brüllen. Sie streckte die Arme nach Mary aus.
»Komm zu mir«, sagte Mary ruhig und winkte Hanna heran.
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