Rachekind: Thriller (German Edition)
Gemütlichkeit ausstrahlte, die sie zuvor noch nie kennengelernt hatte.
So wie der ganze Ort verzaubert wirkte, nicht nur die Straße, in der das Cottage lag, mit seinen gepflegten Gärten und zierlichen Häusern, sondern auch die Hauptstraße, über die man in wenigen Minuten die Uferpromenade erreichte und die kleine Läden beherbergte, deren Besitzer es noch schätzten, wenn die Kunden Zeit für einen kurzen Tratsch mitbrachten. Dennoch hatte Mary sie gestern, als sie ein Paar Gummistiefel für Lilou besorgen wollte, die zehn Kilometer in die nächste Stadt, nach Ilfracombe geschickt.
George hatte sich in den letzten Tagen auffällig gewandelt. Er war freundlich und hilfsbereit und stand ihr mit einer Selbstverständlichkeit zur Seite, als wäre sie tatsächlich seine Schwiegertochter. Trotzdem begegnete sie ihm mit Vorsicht, immer auf der Hut, nichts Falsches zu sagen oder zu tun. Sein Ausbruch, als sie ihm Steves Bild gegeben hatte, und der harte Griff, mit dem er sie zur Tür geschoben hatte, waren ihr noch zu lebhaft in Erinnerung.
Sie hatte begriffen, dass über den verschwundenen Sohn nicht geredet wurde, auch wenn es sie befremdete und mit einem schalen Gefühl zurückließ. Sie konnte einfach nicht verstehen, wie Mary und George es schafften, ihn so rigoros aus ihrem Leben zu verbannen. Es war ein Tabuthema, das auch Gäste nicht berühren durften, weil es für Mary zu schmerzlich war. Selbst Mary hatte ihr die Unsicherheit nicht nehmen können »George weiß, wie sehr ich unter Stevies Verschwinden gelitten habe und wie nah Hoffnung und Verzweiflung beieinanderliegen«, hatte sie ihr anvertraut, »er will mich nur schützen. Er ist ein guter Mann.«
Hanna nahm eines der Flugblätter, die sie erstellt hatte, und betrachtete Steves Foto. Wer bist du? Kennt man dich hier? Trotz ihrer Zurückhaltung gegenüber George war sie froh, dass er sie überallhin begleitete. Legte er seine Hand auf ihre Schulter und nickte hoheitsvoll, dann reagierten die Menschen völlig anders auf ihre Bitte, ein Flugblatt aushängen zu dürfen. Als wäre er ein italienischer Don, der seinen Segen erteilte. Niemand vergaß, sich nach Mary zu erkundigen, und manche gaben ihm eine Kleinigkeit für sie mit oder nahmen ihm das Versprechen ab, doch bald mal wieder mit ihr auf einen Tee vorbeizuschauen.
Sie strich mit dem Finger über das Foto. Schade, dass George und Mary nicht deine Eltern sind. Wir mögen sie. Und sie mögen uns. Hanna dachte an ihre eigenen Eltern und spürte ein Ziehen in der Brust. Sie fehlten ihr. Trotz allem, was passiert war.
Das Klingeln ihres Handys scheuchte sie aus ihren Gedanken.
»Warrington?« Sie legte das Flugblatt auf den Tisch zurück.
»Simon hier. Wie geht es dir? Hast du herausgefunden, wer die echten Eltern sind?«
»Nein. Wir haben Flugblätter verteilt, aber es hat sich noch niemand gemeldet.« Hanna wanderte durch das Wohnzimmer. »Zum Glück haben George und Mary uns aufgenommen.«
»Und du bist ganz sicher, die beiden sind nicht seine Eltern? Ich hab seit unserem letzen Telefonat an nichts anderes mehr gedacht. Irgendwie passt da was nicht.«
Hanna blieb vor dem Gasofen stehen. Auf dem Kaminsims waren mehrere Fotos aufgestellt: George und Mary, als sie noch sehr jung waren, das Foto musste aufgenommen worden sein, bevor Mary an den Rollstuhl gefesselt wurde; George und Mary vor einer unglaublichen Rosenpracht in ihrem Garten; Mary im Rollstuhl, George hinter ihr, seine Hand auf ihrer Schulter, als wollte er sie festhalten, damit sie nicht plötzlich auf und davon rollte und ihn allein und verwaist zurückließ.
»Ich habe mir die Frage schon hundertmal gestellt. Aber es passt nicht zu Georges Reaktion, als ich ihm Steves Foto gezeigt habe. Er hat mich fast aus dem Haus geworfen, so wütend war er. Das war nicht gespielt.« Sie nahm das Foto der jungen Warringtons und betrachtete es näher.
»Ich verstehe ohnehin nicht, wie das passieren konnte. Echt krass. Hast du mal mit diesem Stein gesprochen?«
»Er wäre am liebsten gleich hergeflogen, aber das wollte ich nicht.« Marys Lachen auf dem Bild war bezaubernd. Hanna konnte sich gut vorstellen, dass George bis über beide Ohren verliebt in seine Frau gewesen war.
»Warum nicht? Lass ihn seine Arbeit machen. Steve war vor Kurzem in Combe Martin, und ausgerechnet dort gibt es Warringtons mit einem Sohn Steve, der verschwunden ist – da muss es einen Zusammenhang geben.«
»Glaubst du, das ist mir nicht klar?«, rief Hanna. »
Weitere Kostenlose Bücher