Racheklingen
Vorraums angebracht worden. Eine derartige Änderung zu einem so späten Zeitpunkt passte ihm überhaupt nicht ins Konzept. Tatsächlich riet ihm sein Instinkt zunächst, als Allererstes Vorsicht walten zu lassen und sich still zurückzuziehen, wie er es oft getan hatte, wenn sich die Umstände unerwartet änderten. Aber ein Mann sicherte sich seinen Platz in der Geschichte nicht allein mit Vorsicht. Der Ort, die Herausforderung, die winkende Belohnung waren viel zu großartig, um diese Gelegenheit nur wegen einer neuen Tür verstreichen zu lassen. Er fühlte den Atem der Geschichte im Nacken. Allein der heutige Abend würde darüber entscheiden, ob man sich später an seinen Namen erinnern würde oder nicht.
Er ging an der Plattform vorbei, die ein Dutzend Maler gerade mit Goldfarbe anstrichen, und schritt geradewegs zu der besagten Tür. Mit nachdenklich geschürzten Lippen ließ er sie mal in die eine, mal in die andere Richtung schwingen, als wolle er überprüfen, ob sie wirklich geräuschlos in den Angeln arbeitete. Blitzschnell und kaum wahrnehmbar warf er einen Blick in die Runde, um festzustellen, dass ihn niemand beobachtete, dann glitt er hindurch.
In dem kleinen Gewölbe gab es weder Fenster noch Lampen, so dass allein durch die beiden Wendeltreppen von oben Licht hineinfiel. Leere Kisten und Fässer waren unordentlich vor den Wänden aufgetürmt. Er wollte sich gerade überlegen, welche Loge er für die entscheidenden Schüsse beziehen sollte, als er hörte, dass sich Stimmen näherten. Schnell quetschte er sich in den schmalen Spalt hinter einem Stapel Kisten, schrie unterdrückt auf, als sich ein Splitter in seinen Ellenbogen bohrte, erinnerte sich noch gerade rechtzeitig an seine Werkzeugkiste und angelte sie mit dem Fuß zu sich heran. Kurz darauf öffnete die Tür sich knarrend, und Füße scharrten schwerfällig über den Boden, Männer stöhnten unter einer schweren Last.
»Bei den Schicksalsgöttinnen, ist das schwer!«
»Setzt es hier ab!« Ein lautes Klappern und das Kreischen von Metall auf Stein. »Verdammtes Mistding.«
»Wo ist der Schlüssel?«
»Hier.«
»Steck ihn ins Schloss.«
»Und was, bitteschön, ist der Sinn und Zweck eines Schlosses, wenn der Schlüssel darinsteckt?«
»Dass er kein Hindernis darstellt, Idiot. Wenn wir die verdammte Kiste vor dreitausend Leuten raustragen und Seine Exzellenz uns befiehlt, sie zu öffnen, dann will ich vermeiden, dass ich dich angucke und dich frage, wo der Schlüssel ist und du das Scheiß Ding irgendwo verloren hast. Verstehst du?«
»Seh ich ein.«
»Hier drin ist er viel sicherer, in einem verriegelten Raum, vor dem ein Dutzend Wächter steht, als in deinen dreckigen Taschen.«
»Du hast mich überzeugt.« Es gab ein leises, metallisches Knirschen. »So. Zufrieden?«
Die Schritte entfernten sich nun wieder. Dann erklang der schwere Rums einer Tür, die geschlossen wird, das Klicken eines Schlosses, das Knirschen eines Riegels, und dann Stille. Morveer war in einem Raum eingeschlossen, vor dem ein Dutzend Wächter stand. Aber das allein konnte einen Mann seiner außergewöhnlichen Kühnheit nicht schrecken. Wenn der kritische Augenblick gekommen war, würde er ein Seil von einer der Logen hinablassen und dann versuchen, unerkannt zu verschwinden, während aller Augen auf Rogonts spektakuläres Dahinscheiden gerichtet waren. Äußerst vorsichtig, um sich nicht noch einen Splitter zuzuziehen, wand er sich wieder hinter dem Gerümpel hervor.
Eine große Kiste war mitten im Raum abgestellt worden. Sie war schon an sich ein Kunstwerk, mit schönen Intarsien geschmückt und mit zartem Silberdraht zusammengehalten, der im Halblicht schimmerte. Ganz offensichtlich enthielt sie etwas, das für die kommende Zeremonie von allergrößter Bedeutung war. Und da ihm der Zufall den Schlüssel in die Hände gespielt hatte …
Er kniete sich hin, drehte ihn leise im Schloss und schob mit vorsichtigen Fingern den Deckel zurück. Es war nicht leicht, einen Mann von Morveers Erfahrung zu beeindrucken, aber nun weiteten sich seine Augen, ihm klappte die Kinnlade hinunter, und Schweiß kribbelte auf seiner Kopfhaut. Der gelbe Glanz von Gold wärmte beinahe seine Haut, und dennoch lag in der Art, wie er reagierte, noch etwas anderes als nur die Bewunderung der reinen Schönheit, der symbolischen Bedeutung oder auch nur des unzweifelhaften Wertes, den das Ding, das da vor ihm lag, besaß. Etwas rührte sich in seinem Hinterkopf …
Die Idee durchfuhr
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