Racheklingen
Apfel. Vorsicht stand immer an erster Stelle, aber wenn man andere täuschen wollte, dann waren überwältigendes Selbstvertrauen und ein einfältiges Gesicht stets das beste Rezept. Er zog tatsächlich nicht die geringste Aufmerksamkeit der Wächter auf sich, weder am Tor noch am anderen Ende der Vorhalle. Nachdem er den Apfel bis zum Kerngehäuse abgenagt hatte, steckte er den Rest in seine Werkzeugkiste, und nur einen winzigen Augenblick dachte er rührselig darüber nach, wie gern Day ihn aufgegessen hätte.
Das Senatsgebäude lag frei unter offenem Himmel, nachdem die große Kuppel schon vor Jahrhunderten eingestürzt war. Drei Viertel des überwältigend großen, runden Raums waren mit Sitzbänken ausgefüllt, die zweitausend höchst ehrenwerten Zuschauern, vielleicht sogar noch mehr, Platz geboten hätten. Jede Marmorstufe war etwas niedriger als die dahinterliegende, so dass die Ränge wie im Theater nach hinten hin anstiegen, und davor befand sich ein freier Platz, auf dem in der alten Zeit die Senatoren gestanden hatten, wenn sie ihre großen Reden hielten. Hier war nun eine runde Plattform aus Holz errichtet worden, deren Intarsien in mühevoller Kleinarbeit mit vergoldeten Eichenblattkränzen verziert worden waren, die sich um einen grell goldenen Stuhl rankten.
Große Banner aus Suljukseide in leuchtenden Farben, eine für jede Stadt Styriens, schmückten auf ganzer Höhe die Wände, dreißig Schritt lang oder noch mehr; Morveer wollte sich gar nicht ausmalen, was sie gekostet haben mochten. Das azurblaue Tuch von Ospria, das mit einem weißen Turm versehen worden war, nahm den Ehrenplatz direkt hinter der Plattform ein. Das Kreuz von Talins und die Muschel von Sipani hingen links und rechts davon. Auf der restlichen Fläche hatte man die Brücke von Puranti, das rote Banner von Affoia, die drei Bienen von Visserine, die sechs Ringe von Nicante verteilt und daneben die großen Flaggen von Muris, Etrisani, Etrea, Borletta und Caprile aufgehängt. In der stolzen neuen Ordnung, so hatte es den Anschein, sollte niemand ausgeschlossen werden, ob er dazugehören wollte oder nicht.
Überall wimmelte es vor schwer beschäftigten Männern und Frauen. Schneider zupften an den Vorhängen und den zahllosen weißen Kissen, die man zur Bequemlichkeit der wichtigsten Ehrengäste bereitgelegt hatte. Zimmerleute sägten und hämmerten an der Plattform und den Stufen. Blumenhändler bestreuten den ungenutzten Boden mit einem Teppich aus weißen Blüten. Kerzenzieher stellten ihre wächsernen Werke in endlosen Reihen auf und kletterten auf Leitern zu den hundert Wandleuchtern empor. Ein Regiment osprianischer Wachleute, deren Hellebarden und Rüstungen spiegelhell poliert worden waren, behielt sie allesamt im Auge.
Dass Rogont beschlossen hatte, sich ausgerechnet hier krönen zu lassen, im uralten Herzen des Neuen Kaiserreichs – schon allein diese Tatsache zeugte von unglaublichem Hochmut, und wenn es eine Eigenschaft gab, die Morveer überhaupt nicht vertrug, dann war es Hochmut. Bescheidenheit kostete schließlich nichts. Er verbarg seine tiefe Abscheu und ging gelassen die Treppe hinunter, wobei er den selbstzufriedenen Schlendergang des einfachen Arbeiters nachahmte und sich unter die anderen mischte, die sich an den geschwungenen Sitzbänken zu schaffen machten.
An der Rückseite des großen Saals, vielleicht zehn Schritt über dem Boden, gab es zwei kleine Logen, in denen, wie er vermutete, früher die Schreiber gesessen und alles Gesprochene protokolliert hatten. Jetzt waren sie mit zwei riesenhaften Porträts von Herzog Rogont geschmückt. Eines zeigte ihn streng und männlich, in heroischer Pose mit Schwert und Rüstung. Das andere stellte Seine Exzellenz nachdenklich dar, angetan wie ein Richter, mit Buch und Kompass. Der Meister des Friedens und des Kriegs. Morveer konnte ein spöttisches Lächeln nicht unterdrücken. Dort oben, in einer der beiden Logen, war ein ideales Versteck, von dem aus man einen so tödlichen Pfeil abschießen konnte, dass er diesem aufgeblasenen Idioten und seinen hochfahrenden Plänen die gesamte Luft herauslassen würde. Sie waren über Treppchen zu erreichen, die von einer kleinen, unbenutzten Kammer nach oben führten, in der man in alter Zeit die Aufzeichnungen aufbewahrt …
Er hielt stirnrunzelnd inne. Zwar stand sie offen, aber eine schwere Tür aus dicker Eiche, fachkundig zusammengefügt und mit polierten Stahlbeschlägen versehen, war vor dem Eingang des kleinen
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