Rachekuss
Nadelbäume.
Den Rest des Tages verkroch sich Flora in ihrem Zimmer. Sie hatte Lust, die Wände im gleichen Schwarz zu übermalen wie Carinas. Sie lag auf ihrem Bett, drehte die Musik laut – Rosanna & Zélia, deren melancholische Melodien perfekt zu ihrer Stimmung passten – und wollte nicht denken, nicht sprechen, nicht essen, nicht fühlen. Immerhin respektierten ihre Eltern ihren Rückzugswunsch und niemand belästigte sie. Einmal meinte sie, unten die Türglocke zu hören und eine Jungenstimme, Yanniks Stimme, aber sie rührte sich nicht. Irgendwann schlief sie ein und erwachte sehr früh am nächsten Morgen mit knurrendem Magen.
Ein klarer Morgenhimmel mit dem ersten samtenen Schimmer der Sonne war durch ihr Dachfenster zu erkennen und Flora brauchte einen Moment, um zu begreifen, wo sie war. Sie zog irgendetwas über, ihr war völlig egal, ob es zusammenpasste, schlich, um niemanden zu wecken, nach unten und machte Frühstück. Die Sonne schien in die weiße Küche, ließ alles erstrahlen.
Mit einem Mal kam ihr der gestrige Tag völlig unwirklich vor. Hatte sie wirklich geglaubt, sie könne einfach so nach Brasilien abhauen? Wie lächerlich. Wie absolut lächerlich sie doch war. Sie setzte sich, legte die Füße auf den Heizkörper unter dem großen Fenster, pustete über ihren heißen Milchkaffee und blickte in den Garten, wo die Tautropfen auf kargen Zweigen schimmerten.
»Minha princesa, guten Morgen«, sagte ihr Vater und sie war froh, dass er versöhnlich klang. Sie murmelte einen Morgengruß zurück, wusste aber nicht, was sie sonst sagen sollte. Sie hörte Theo hinter ihrem Rücken sein Frühstücksbrot zubereiten, hörte ihren Bruder im Badezimmer singen und ihre Mutter über den Nachbarskater schimpfen, der schon wieder eine tote Maus vor der Terrassentür abgelegt hatte. Alles war ganz normal, wie immer. Sie spürte, wie sie sich immer stärker verbunden fühlte mit diesem Alltag, wie sie ihn einsog und sich die Gedanken an alles andere verbot. Sie wollte jetzt funktionieren, und das war’s. Ihr Vater zog sie fest an sich, bevor er ging, und flüsterte: »Pass auf dich auf, ja?« Sie entwand sich ihm und nickte. Immerhin hätte er auch »Mach keine Dummheiten« sagen können.
Auf dem Weg zur Schule kam sie sich noch etwas ferngesteuert vor, bis ihr einfiel, dass heute eine Klausur in Geschichte anstand. Gelernt hatte sie nichts dafür, gar nichts. Ob Yannik sie abschreiben lassen würde? »Ich liebe dich«, hatte er geschrieben. In Flora zog sich alles zusammen. Sie mochte ihn, ja, sie küsste ihn gerne, aber lieben? Nein. Da war kein Gefäß in Flora, aus dem so etwas wie Liebe herausströmen konnte. Da war nur Finsternis und ein Gefühl von Abgestumpftsein, das ihren Tag in ein diffuses, trübes Licht tauchte. Flora biss erneut in ihren Arm, so wie sie es auf dem Flughafen getan hatte, und sie war froh, dass sie sich spüren konnte. In Brasilien war sie eine andere gewesen, da war sie sich sicher. Fröhlich und unbeschwert, leidenschaftlich und ausgelassen.
»Hey, wieso bist du nicht in Rio und tanzt Samba?«, hörte sie plötzlich eine Stimme hinter sich. Sie drehte sich langsam um und erkannte Carina, die mit ihrem Fahrrad zu ihr aufschloss. Carina sah blass aus, war aber stark geschminkt mit viel Schwarz um die Augen und einem knallig orangeroten Mund über dem schwarzen Kurzmantel, was sie viel älter aussehen ließ.
Obwohl sie gerade die Werner-von-Siemens-Straße überquerte, ließ Flora ihr Fahrrad einfach los und fiel ihrer Freundin um den Hals. Endlich kamen die Tränen. Carina sagte nichts und streichelte nur ihren zitternden Rücken. Ein paar Autofahrer fuhren hupend um sie herum.
»Komm«, sagte Carina irgendwann sanft und befreite sich aus Floras Armen. »Ich glaub, ihr schreibt heute eine Klausur, du solltest pünktlich sein. Wir reden dann nachher, in der Pause, okay?« Flora nickte schniefend und ließ sich von Carina zur Schule bringen.
Worte wie Imperialismus, Industrialisierung und Interpretationen wirbelten durch Floras Kopf, als sie kurz vor Ende der zweistündigen Klausur auf die Toilette ging. Ein paar Fragen hatte sie wider Erwarten ganz gut beantworten können, Yannik hatte sich tatsächlich so vor sie gesetzt, dass sie immer wieder über seine Schulter schielen konnte, aber ein Teil der Fragen war ihr wie ein großes schwarzes Loch der Unsicherheit vorgekommen, das sie verschlingen wollte. Als ihr klar war, dass ihr garantiert nichts mehr einfallen würde,
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