Rachekuss
entsorgt.«
Carina kicherte.
»Welches Kondom?«
»Hey, spinnst du? Ihr habt’s ohne Verhütung gemacht?«
»Ach, ich war sicher, dass nichts passieren kann.«
»Aber…« Flora stöhnte. »Es geht doch nicht ums ›Nix-Passieren‹. Hey, es kann immer was passieren. Kanntest du den Typ überhaupt?«
»Hab schon ein paar Mal im ›Zirkel‹ mit ihm getanzt. Und bei seinem Papa im Lokal türkisch gegessen. Sehr zu empfehlen. Komm, und jetzt spar dir deine Vorwürfe. Was geht ab heute? Sehen wir uns?«
Flora wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte nicht das geringste Bedürfnis nach Gesellschaft. Carina schien ihr mit einem Mal weit weg zu sein. Als sei noch immer der Atlantik zwischen ihnen.
»Ich glaub, ich muss heute erst mal das Haus putzen und meine Eltern irgendwie besänftigen.«
»Oh, Scheiße, so schlimm? Ich hab das gar nicht so richtig mitbekommen. Als die Polizei aufgetaucht ist, bin ich mit Akay einfach abgehauen. Nicht sehr solidarisch, Schwester, ich weiß.«
»Schon verziehen. Wir sehen uns morgen in der Schule, okay?« Oder auch nicht, dachte Flora. Vielleicht sollte sie morgen früh einfach an den Flughafen fahren und so lange dort bleiben, bis sie einen Flieger bekam.
7. Kapitel
Auszug aus dem psychiatrischen Gutachten, Prof. Dr. W. Metzler vom 02.12. d. J.:
»…befragt nach den Plänen für ihr Leben, weiß die Patientin keine Antwort zu geben. Sie gibt an, dass sie sehr oft ihre Vorstellungen über ihr zukünftiges Leben ändere, sich aber auch konkret wenig vorstellen könne, von dem sie glaube, es würde sie glücklich machen. (…) Die Inkonsistenz der Lebensplanung ist ein markantes Merkmal der Erkrankung. Von Spontaneität, Unruhe und diffusen Ängsten getrieben, können Ziele von heute auf morgen über Bord geworfen werden. Impulsive Handlungen steuern dabei das Tun der Betroffenen. Rationale Verhaltensweisen geraten völlig in den Hintergrund…«
Es war auch am Montagmorgen noch kalt. Ein grauer Himmel wölbte sich über der Stadt und dem Schneematsch, der auf den Straßen liegen geblieben war. Flora hatte das Gefühl, sie hatte immer nur gefroren, seit sie in Deutschland war. Sie konnte sich kaum noch daran erinnern, wie es war, Sonne auf der nackten Haut zu spüren. Aber sie wusste, wo sie sich dieses Gefühl holen konnte. Sie müsste nur mit der Regionalbahn zum Nürnberger Hauptbahnhof und von da war es keine Viertelstunde mehr mit der U-Bahn zum Flughafen. Sie würde wenig Gepäck mitnehmen. Damit niemandem etwas auffiel. Sie hatte am Sonntagnachmittag mit langen Gummihandschuhen und einem weißen Mundschutz, den ihre Mutter im Atelier benutzte, wenn sie etwas abschleifen musste, die Gästetoilette gereinigt. Es war gar nicht so schwer gewesen. Flora hatte sich vorgestellt, die Toilette stünde in Rio und wenn sie fertig wäre, könnte sie an den Posto neun gehen und alle wären da. Dass sich Yannik unter ihre Freunde gemischt hatte, erschien ihr seltsam, aber irgendwie auch schön. Er hatte am frühen Nachmittag eine SMS geschrieben: Er habe einen Mordskater und Riesenstunk mit seinen Eltern, die ihn um sieben am Morgen aus der Ausnüchterungszelle hatten abholen müssen, aber es sei ein geiles Fest gewesen und er freue sich, sie am Montag in der Schule zu sehen. Flora hatte nicht geantwortet.
In einer Dachkammer neben ihrem Zimmer waren Koffer und Rucksäcke abgestellt und so hatte sich Flora, als ihre Eltern im Bett waren, eine Reisetasche genommen und diese mit dem Nötigsten gepackt. Klamotten konnte man auf Märkten in Rio günstig einkaufen – vor allem gefälschte Markenartikel. Das Winterzeug, das sie hier im Schrank hatte, war sowieso ungeeignet.
Flora schlief schlecht, schreckte immer wieder kurz hoch und spürte, wie ihr Magen gegen ihren Vorsatz rebellierte. Sie ignorierte ihn.
Beim Frühstück tat sie, als sei alles wie immer, kasperte mit Lucas herum und war froh, dass weder Theo noch Leticia auf dem Vorfall vom Wochenende herumhackten.
Als sie Lucas im Schulgebäude verschwinden sah, rannte sie zurück zu ihrem Fahrrad, sah nicht rechts und nicht links, um ja niemanden zu entdecken, den sie kannte, und fuhr schnell zurück nach Hause, um ihre Tasche zu holen, die sie noch am Vorabend hinter der Garage versteckt hatte. Durch die große Glasfront des Ateliers konnte sie ihre Mutter erkennen, die versunken auf eine halb fertige Plastik starrte. Flora schluckte, flüsterte »Adeus« und schwang sich wieder auf ihr Fahrrad. Ein Abstecher zur
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