Rachekuss
drei.
Und da sah sie sie kommen. Ein Streifenbeamter vorneweg, ihre Eltern und dahinter, alle leicht überragend, Yannik. Flora duckte sich, hoffte, dass sie von einer Sekunde zur nächsten unsichtbar werden würde. Aber dann fiel ihr ein: Sie war volljährig. Es konnte sie keiner zwingen hierzubleiben. Nur noch fünf Leute vor ihr, bis sie ihre Bordkarte in Händen halten würde.
»Entschuldigung«, sprach sie den Mann vor sich an. »Würden Sie mich vorlassen, bitte?« Ihr Lächeln musste dem eines Engels gleichen, doch der Mann sah über ihren Kopf hinweg auf den Polizisten, den hellhäutigen Mann und die dunkelhäutige Frau, die dem Mädchen neben ihm so ähnlich sah, und er hob abwehrend die Hände.
»Flora«, brüllte da auch schon ihre Mutter und alle Augen richteten sich zunächst auf sie, folgten dann dem Spurt von Leticia und blieben auf Flora liegen, an deren Arm sich ihre Mutter nun festkrallte.
»Flora«, schrie sie noch einmal und ein Schwall brasilianischer Worte übergoss das Mädchen. Alles war dabei – von: »Das kannst du uns nicht antun« über »Das haben wir nicht verdient« bis »Du bist ja verrückt – wir können doch über alles reden«.
Der Polizist schien leicht genervt zu sein ob des tränenreichen, lautstarken Auftritts von Leticia und Theo zog seine Frau von Flora weg.
»Bitte, beruhigen Sie sich doch«, sagte der Polizeibeamte streng. »Ich habe Sie hierhergebracht – ausnahmsweise. Jetzt klären Sie die Sache wie zivilisierte Menschen, bitte schön. Ihre Tochter kann als Volljährige tun und lassen, was sie will.«
»Da hörst du’s«, schrie Flora ihren Vater an, noch ehe der ein Wort sagen konnte.
»Du stehst unter Schock, Flora.« Ihr Vater war gewohnt ruhig, was seinen Worten eine umso größere Autorität verlieh. »Die letzten Wochen waren hart für dich, ich weiß. Aber du kannst nicht einfach abhauen. Meine Tochter tut so etwas nicht. Auch wenn du volljährig bist – ich verbiete es dir! Du kommst mit nach Hause!«
»Einen Dreck werde ich tun«, brüllte Flora, ging auf die Stewardess zu und hielt ihr ihr Ticket entgegen. Die Stewardess wirkte völlig überfordert, sah ratlos zwischen Flora und ihrem Vater hin und her und dann drängelte sich eine Mittfünfzigerin an Flora vorbei und zischte pikiert: »Wir haben alle unsere Zeit nicht gestohlen. Streiten Sie doch zu Hause weiter!«
Ehe Flora etwas antworten konnte, stand nun Yannik neben ihr.
»Flora, bitte, du darfst nicht gehen«, sagte er leise und seine grünbraunen Augen hakten sich in ihrem Gesicht fest. Er umfasste sie mit beiden Armen, zog sie an sich heran und Flora hatte seit Tagen das erste Mal das Gefühl, sie könne sich nun einfach fallen lassen. Er roch ein wenig nach Schweiß, aber gut war das. Er hob ihr Kinn hoch, sah ihr in die Augen und dann senkten sich seine Lippen auf ihre. Die Umstehenden begannen zu kichern und Flora wollte sich aus Yanniks Umarmung lösen, aber er hielt sie einfach fest.
Die letzten Passagiere betraten die Gangway und die Stewardess sah streng auf das Grüppchen.
»Was ist nun?«, fragte sie, und ehe Flora irgendetwas sagen konnte, war ihr Vater zu der Frau in Uniform getreten und bestätigte, dass Flora nicht mitfliegen würde.
Flora spürte, wie ihr Körper schlaff wurde. Sie hatte das Gefühl, sie würde in Yanniks Armen zerlaufen, eine Pfütze auf dem Boden bilden, einfach versickern, verschwinden. Sie riss ihren Arm los und biss mit voller Wucht hinein.
Die Stewardess packte ihre Utensilien ein und verließ den Platz in Richtung Gangway. Ein letztes Aufbäumen lief durch Flora, aber dann ließ sie sich wie eine Puppe, willenlos, unfähig zu denken, von Yannik führen. Ihre Lebensenergie war wie ausgeschaltet. Den Sicherheits-Check in umgekehrter Richtung, durch die Abflughalle hinaus auf den Parkplatz, wo das große Auto ihres Vaters stand. Ihr Gepäck war bereits verladen und würde erst in ein paar Tagen mit dem Flieger zurückkommen.
»Ich bin Yannik so dankbar, dass er uns gleich informiert hat«, sagte Leticia und tätschelte dem großen Jungen dankbar die Schulter. »Er hat das Telefonat zwischen dir und Carina gehört – und er hat richtig reagiert. Erwachsen.«
Yannik stieg mit Flora in den Fond des Wagens ein und auch hier ließ er sie nicht los – als habe er noch immer Angst, sie könne fortlaufen. Flora sah die ganze Fahrt über stumm zum Fenster hinaus. Sie konnte es nicht fassen. Statt Wolken unter sich – überall nur dürre
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