Rachekuss
entdeckte, kam er näher.
»Und, wie ist es gelaufen?« Er würdigte Carina keines Blickes.
»Danke, ging schon«, sagte Flora. »Hast du echt mein Fest auf deiner Seite gepostet?«
»Quatsch!«, rief Yannik empört. »Du hast die Veranstaltung doch selbst für jedermann sichtbar gemacht.« Flora zuckte zusammen. Sie spürte Wut aufkommen.
»Ich? Never!«, sie schrie nun fast. »Das ist totaler Bullshit, Carina, oder, du warst doch dabei, als ich sie eingestellt habe.« Carina nickte langsam, sagte aber nichts.
»Na ja, egal, geschehen ist geschehen. Wir können das nicht mehr nachvollziehen, bei Facebook steht’s ja jetzt wenigstens nicht mehr drin.« Yannik machte eine wegwerfende Handbewegung und ging grußlos fort. Flora brauchte einige Minuten, um sich zu beruhigen.
»Ich glaub, ich will den echt nicht mehr sehen«, sagte sie dann, als der Pausengong erneut schlug und sie sich in den Mathekurs aufmachten.
8. Kapitel
Auszug aus dem psychiatrischen Gutachten, Prof. Dr. W. Metzler vom 02.12. d. J.:
»…Die Patientin glaubt unumstößlich daran, dass andere ein sie schädigendes Verhalten an den Tag legten, um sie zu quälen. Sie ist überzeugt, dass selbst ihr nahestehende Personen so aus Bosheit und Hass auf sie handelten. Sie sei daher oft nicht in der Lage, adäquat auf ihre Mitmenschen zu reagieren. (…) Grund für diese Negativ-Bewertungen sind paranoide Phasen, zu denen es im Verlauf der Erkrankung immer wieder kommen kann…«
Das Pensum für die Herbstferien war nicht ohne. Flora musste sich unbedingt um Deutsch und Geschichte kümmern, damit sie in der auflaufenden Stoffflut nicht irgendwann untergehen würde. Mathe und Französisch standen ganz oben auf Carinas Liste. Bisher war sie immer gut in Mathe gewesen, aber in diesem Halbjahr hatte sie noch nicht geglänzt.
Am Samstagmittag hatten Floras Eltern mit Lucas das Auto bestiegen und waren abgefahren. Sie würden sich – mit ein paar Besuchszwischenstationen in München – auf einem Bauernhof in den Alpen vergnügen und Lucas hoffte, dass er mal Traktor fahren konnte. Seinen Fußball daheimlassen zu müssen, fand er jedoch ziemlich ätzend.
Flora war froh, dass niemand von ihr erwartete, so einen absehbar langweiligen Familienurlaub mitzumachen. Sie hatte ihren Eltern glaubhaft versichern können, keine Partys mehr zu veranstalten.
Über ihren Ausreiß-Versuch war nicht mehr groß gesprochen worden. Ihr Vater hatte ihr klargemacht, dass sie die 1000 Euro, die sie für das Flugticket umsonst ausgegeben hatte, auf dem Konto »Erfahrungen« würde abbuchen müssen. Den Rest ihrer Ersparnisse legte er abzüglich der Kosten, die für die Reparaturschäden nach der Party angefallen waren, so für sie an, dass sie erst in zwei Jahren wieder darauf Zugriff haben würde. Flora ließ seine Erklärungen und Erläuterungen schweigend über sich ergehen. Sie wusste, dass es keinen Sinn haben würde, mit ihm zu streiten. Ihre Mutter hatte sich wie immer aus dem Gespräch herausgehalten. So wie sie sich fast immer aus allem heraushielt. Hauptsache, sie konnte im Keller ihre Figuren schnitzen, wie Flora das für sich böswillig formulierte.
In Rio war Leticia für ihre – je nach Schaffensphase hölzernen oder bronzenen – Skulpturen bekannt gewesen und sie hatte auch an der Kunsthochschule einen Lehrauftrag gehabt. Doch manchmal kam es Flora so vor, als verstecke sich ihre Mutter hinter ihrer Kunst, um sich mit den profanen Dingen des Alltags nicht auseinandersetzen zu müssen. Und in Erlangen, wo sie wenig Grund hatte, aus dem Haus zu gehen, verstärkte sich diese Tendenz noch. Flora ahnte, dass auch ihre Mutter unter Heimweh litt, und es schmerzte sie, dass sich die Mutter nicht mit ihr verbündete, sondern so tat, als sei sie schon längst in der Heimat ihres Mannes angekommen.
Immerhin war ihr Vater nach ein paar Tagen von der Arbeit gekommen und hatte Flora in die Garage gerufen. Stolz hatte er den Kofferraum seines SUVs geöffnet und ein sehr teuer aussehendes, strahlend weißes Fahrrad herausgeholt.
»Und es ist nicht pink!«, hatte er grinsend gesagt und es Flora hingeschoben. Sie wusste, dass sie Danke sagen musste, aber es fiel ihr schwer. Was sollte sie mit einem so völlig überteuerten Geschenk?
»Deine alte Hippe ist ja nicht mehr verkehrstüchtig«, hatte Theo gesagt und es klang gleich wieder so, als wolle er ihr einen Vorwurf machen, warum sie sich nicht selbst darum gekümmert hatte. »Und bis zum Führerschein dauert es ja
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