Rachekuss
auch noch eine Weile«, hatte er dann noch hinzugefügt. »Weil ich doof bin und ewig brauchen werde?«, wollte Flora schon fragen. Aber sie verkniff es sich.
»Cool, oder?«, hatte er beinahe bettelnd gefragt. Flora hatte genickt, war auf das Fahrrad gestiegen und hatte eine so große Runde gedreht, dass er nicht mehr in der Garage stand, als sie zurückkam. Es fuhr gut, das neue Fahrrad, das musste sie zugeben. Freuen konnte sie sich trotzdem nicht.
Am Samstagabend gingen Flora und Carina ins Markgrafen-Theater, weil Flora gedrängt hatte, Melissa Mayer-Grabow endlich einmal auf einer Bühne zu sehen. Sophokles’ »Antigone« wurde gegeben und Flora war ein wenig enttäuscht, dass Carinas Mutter nicht die Titelfigur spielte, sondern nur deren zögernde, zaudernde Schwester. Die Aufführung kam ihr ziemlich provinziell vor: Die Schauspieler stakelten mit Plateauschuhen ungelenk über die Bühne, Mauersteine wurden geschmissen und es wurde viel Lärm gemacht, aber worum es im Stück eigentlich ging und welchen aktuellen Bezug es zum heutigen Leben hatte, wurde Flora nicht klar. Auch Carina schimpfte, im Gegensatz zum Publikum, das begeistert klatschte. Flora war in Rio öfter zu Aufführungen von experimentellen und sehr modernen Kompanien gegangen, die schon mal in den Kammern und Verliesen des früheren Hauptquartiers der Geheimpolizei aufgeführt wurden – dort waren sich Leben und Theater in so aufregender Weise begegnet, dass man den Bühnenraum mit pochendem Herzen verließ und froh war, heil wieder rausgekommen zu sein.
Flora wollte trotzdem gerne nach der Vorstellung Carinas Mutter einen Besuch in der Garderobe machen, um zu beteuern, dass es ihr gefallen habe, aber Carina wimmelte Flora ab – mit dem Hinweis, gleich nach einer Vorstellung sei Melissa noch unausstehlicher als sonst.
So zogen sie mal wieder zum Tanzen in den »Zirkel« und liefen in Floras Zuhause, wo auch Carina übernachten sollte, erst auf, als der Morgen schon dämmerte. Der Sonntag fiel als Lerntag natürlich erst mal aus.
Am Montag brachten sie es immerhin auf gute drei Stunden, in denen sie sich mit Mathe, Geschichte, Deutsch und Biologie auseinandersetzten. Am Dienstag tauchte Carina nicht wie verabredet auf, sondern schrieb nur eine kurze SMS, ihr sei etwas Unaufschiebbares dazwischengekommen und Flora solle alleine lernen. Den Rest des Tages war sie nicht zu erreichen. Flora hatte nichts dagegen. Sie genoss den Tag ganz allein in dem großen Haus. Und als am frühen Abend Yannik unangekündigt auftauchte, war sie richtig froh, dass Carina nicht da war.
Am Anfang waren beide etwas befangen und versuchten sogar, ernsthaft zu lernen. Sie fragten sich Jahreszahlen und Zusammenhänge ab, aber Yannik wurde irgendwann immer einsilbiger und schließlich nahm er Floras Hand und küsste jeden Finger einzeln. Flora lief eine Gänsehaut über den Rücken. Yannik küsste ihren Arm hinauf, den Hals entlang, bis sich ihre Münder fanden und sie auf den flauschigen Teppichboden vor dem Sofa glitten und sich festhielten, umschlangen, umwanden. Yannik wühlte mit dem Kopf in Floras Haar, gleich würde sie ihn ersticken, aber seine sehr lebendigen Hände wanderten unter ihren Pullover, in ihre Jeans und sie wollte ihn, sie wollte ihn so sehr. Sein blondes Haar kitzelte ihren Bauch und mit einem Mal kamen ihr Wilsons Rastalocken in den Sinn – der erste Junge, mit dem sie geschlafen hatte. 16 war sie da gewesen und es war alles so schnell gegangen, dass sie hinterher nicht wirklich sagen konnte, wie es gewesen war. Zu einem zweiten Mal war es nicht gekommen, weil sich Wilson in ein anderes Mädchen verliebt hatte. Flora war nicht einmal gekränkt gewesen, irgendwie hatte das Ganze weniger mit Liebe zu tun gehabt als mit einem interessanten Experiment. Mit Matheus war sie ein Dreivierteljahr richtig gegangen und der Sex mit ihm hatte dann schon mehr Spaß gemacht. Die zwei, drei One-Night-Stands nach irgendwelchen Partys zählte sie lieber gar nicht.
Als Flora bemerkte, wie Yannik seine Hose öffnete, wurde ihr einen Moment unheimlich zumute. Wollte sie das hier wirklich? Würde er aufhören, wenn sie ihn darum bat? Musste sie ihm sagen, dass sie ihn nicht liebte? Würde er sie von nun an als seine Freundin betrachten – seine!
Yanniks breiter Oberkörper ragte über ihr auf, er wackelte mit den Hüften, aber es sah ungelenk aus, seine Bewegungen waren nicht fließend, so wie die von Elizeu oder Matheus. Flora kicherte nervös und Yannik sah
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