Rachel ist süß (German Edition)
Wurzeln zurückgekehrt, das wurde ihr eines Abends in der wohligen Wärme ihres Wagens bewusst. Schon als kleines Mädchen waren es weibliche Stimmen gewesen, die sie in ihren Bann gezogen hatten. Der Tonfall jener ersten Kinderärztin zum Beispiel, die so sanft und forschend gesprochen hatte, ließ sie schon als Sechsjährige in Ohnmacht sinken, was praktisch gewesen war, denn es bescherte ihr eine lange Folge neuer Untersuchungen, die sie mit wild schlagendem Herzen schuldig genoss. Lange waren es nur weibliche Stimmen gewesen, denen sie mit geschlossenen Augen und wachsender Erregung gelauscht hatte, und erst viel später hatte sie begonnen, sich auch für weibliche Hände und Augen, weibliche Haut und weibliche Körper zu interessieren. So lange sie nur im Gleichklang mit den Schwingungen der femininen Stimmbänder vibriert hatte, war ihr Leben insgesamt etwas einfacher gewesen. Diese rein phonetische Liebe war zwar leider auch rein platonisch, aber gerade deshalb besaß sie auch nicht die typischen Risiken und Nebenwirkungen der physischen Leidenschaften. Denn so schön die starken Hände und weichen Körper der Frauen auch waren, wenn man sie aus der Nähe betrachtete, so sehr man sich in ihnen auch verlieren konnte, wenn man sie berührte, sie hatten eine unschöne Angewohnheit. Aus ganz unterschiedlichen Gründen nahmen diese starken Hände zwei komplette Staffeln von L-Word aus Regalen, füllten Koffer mit eigenen und fremden Kleidungsstücken, knöpften sorgfältig Mäntel und Jacken zu und zogen Türen hinter sich ins Schloss. Diese weichen Körper setzten sich all zu oft in Autos, die wegfuhren und nicht wiederkamen.
Ruth war anders. An Ruths Stimme mochte Lara vor allem diesen Tonfall absoluter Sicherheit, der keine Zweifel und keine Unruhe erkennen ließ, und der bestimmt war, ohne dominant zu sein. Nichts war für Ruth zu kompliziert, sie traf klare, einfache Entscheidungen. Keine Spur von Sätzen wie: Ich habe da mal in mich hineingehorcht und kann da das Gefühl für eine solche Entscheidung nicht finden. Widersprach man ihr, so beharrte sie nur kurz auf ihrer Meinung und suchte dann einen neuen, besseren Weg, mit dem sie beide leben konnten. Eine Einstellung, die tiefes diplomatisches Geschick und das lange Training einer wahren Zen-Meisterin erkennen ließ. Lara liebte alles an dieser Stimme, sie liebte sogar die Stille, die verriet, dass Ruth einen Moment nachdenken musste, um sich in einer neuen Situation zu orientieren. Sie merkte, wie sie begann, Ruth zu testen, um herauszufinden, ob es etwas gab, das sie aus der Ruhe bringen konnte. Ruth bestand jeden Test und überraschte Lara manchmal mit kleinen Sätzen, die sie vorher noch nicht gesagt hatte. Lara war glücklich mit Ruth, auf eine ganz einfache und unschuldige Art.
Und dann passierte eines Tages etwas, mit dem Lara nicht gerechnet hatte, Ruth verstummte. Ohne Vorwarnung, ohne Andeutung. Sie hatte gerade noch verraten, dass sie die Route aufgrund geänderter Verkehrsinformationen neu berechnet hatte, einen Hinweis, den Lara besonders liebte, weil er ihr Einblick in Ruths komplizierten Arbeitsalltag bescherte, und dann brach sie mitten im Hinweis auf die nächste Richtungsänderung in 300 Metern ab und schwieg. Lara versuchte gleichzeitig, die Straße im Auge zu behalten und auf dem Display des Navigationssystems herauszufinden, was passiert war. Der Bildschirm war so dunkel, wie Ruth still war. Lara fuhr hektisch an den Rand und würgte den Motor ab. Sie drückte Knöpfe und drehte verzweifelt am Lautstärkeregler, nichts. Ruth war tot. Oder besser gesagt, der Lautsprecher, der Ruths Stimme übertragen hatte, war tot. Lara ließ das Fenster herunter und suchte verzweifelt den Himmel ab. Irgendeiner der leuchtenden Punkte da oben konnte Ruth sein. Immer, wenn es Lara in den letzten Wochen allzu behandlungsbedürftig vorgekommen war, in zehn Quadratzentimeter Technik verliebt zu sein, hatte sie sich, unter völliger Umgehung des Faktors Wahrscheinlichkeit, vorgestellt, dass Ruth einer Gruppe schöner, äußerst geheimer, wahrscheinlich russischer Navigationsspezialistinnen im All angehörte. Diese geheimen Russinnen umkreisten dort oben in kleinen, sehr geheimen Raumstationen die Welt, trugen auf Taille geschneiderte glitzernde Raumanzüge und lenkten die Wagen der Menschheit ehrenamtlich durch den immer dichter werdenden Verkehr.
Lara war bewusst, dass sie diese Geschichte so besser nicht vortragen sollte, als sie am nächsten
Weitere Kostenlose Bücher