Rachel ist süß (German Edition)
hypnotisierte das Telefon, dem nichts ferner lag als zu klingeln. Also schlug ich die Wortbedeutung von „erst mal“ in der Küche in einem Lexikon nach, um die Kontrolle über die Situation zurückzugewinnen und dem demonstrativen Schweigen der Polstermöbel zu entgehen. Da mir das Lexikon zu verstehen gab, dass das Wort „erst“ mit der Bedeutung „zukünftig“ oder „vergangen“, manchmal allerdings auch ganz und gar ohne Bedeutung in der deutschen Sprache herumirrte, wandte ich mich schnell dem Wort „Mal“ zu. Wie tiefsinnig, dachte ich, als ich die richtige Seite aufschlug. Die Aufzählung, in welchen Kombinationen „Mal“ zu benutzen war, wirkte wie der Text einer jungen wilden Literaturhoffnung, die ihren Weltschmerz in die Schwaden einer verrauchten Bar deklamierte:
Es war das erste,
zweite,
letzte,
einzige Mal,
dies war das erste und das
letzte Mal, dass ich ihr geglaubt habe;
zum hundertsten
Male
hat sich das ereignet,
die letzten Male ging es besser;
nächstes,
ein anderes Mal
setzen wir unsere Unterhaltung fort;
das eine Mal
hättest du zu Hause bleiben können;
ein zweites Mal
soll es nicht wieder vorkommen;
ein für alle Mal ( für immer ) ist jetzt Schluss.
Pure Poesie. Ich schrieb die Lexikondefinition mit Kreide auf die Tafel an der Küchentüre, gab ihr den Titel „Du kannst mich Mal!“ und beschloss, mich damit um einen Lyrikpreis für Gefangene zu bewerben, von dem ich kürzlich in einer Zeitschrift gelesen hatte.
Die Einbauküche, die immer darauf bedacht war, alles in die richtige Schublade zu stecken, fürchtete, ich könne verrückt geworden sein, aber das war nicht der Fall. Ich wusste genau, was ich tat, ich ließ meine Gedanken einfach gerne wirre Labyrinthe bauen, in denen sich die Realität verirrte, wenn ich ihr auf gerader Strecke nicht ins Gesicht sehen konnte.
Hatte ich, während ich mein Siegergedicht abschrieb, vielleicht das Telefon überhört? Oder ihren Schlüssel in der Tür? Oder das Klirren von Glas, als Isa das Küchenfenster einschlug, um sich den Schlüssel zu holen, den sie eben noch demonstrativ auf den Küchentisch gelegt hatte?
Ich sah die Stille an, die Stille sah mich an, keine von uns beiden zwinkerte, bis sie langsam den Kopf schüttelte. Nach Wochen, in denen sie sich nur in den Nachtstunden völlig ausstrecken konnte, weil über Tag immer jemand weinte oder schrie, war sie nun Herrin der Lage. Ich übertrug meinen Beitrag zur Auferstehung der Lyrik auf ein Blatt Papier, steckte es in einen Briefumschlag, frankierte und adressierte den Brief und verbrauchte dabei so viel Energie, dass mir vor Erschöpfung die Tränen kamen.
Die Küchenuhr tickte mit der ganzen Kraft ihrer winzigen Rädchen ein seltsames, trauriges Lied von ewiger Einsamkeit und ich musterte sie enttäuscht. „Auch du, mein Sohn Brutus“, flüsterte ich dann und tat, was Caesar damals nicht tun konnte, ich entfernte ihr die Batterien. Das ließ mein Handy offensichtlich um seinen Akku fürchten, denn es klingelte so laut, dass die Stille sich erschreckt ans Dekolleté griff. Ich schaute auf das kleine Display, das so oft mit fröhlichem Blinken Isas Namen angezeigt hatte und fand nur die Worte „Anruf von Unbekannt“.
Du mobile Quelle der Weisheit, dachte ich, sind wir nicht alle Fremde? Ich sagte kurz einmal probeweise laut „Katastrophengebiet“ in den Raum hinein, um zu überprüfen, ob an meiner Stimme noch Tränen hingen, fand aber, dass sie trocken klang und drückte den kleinen grünen Knopf. Es war nicht Isa, sondern meine persönliche Kreditberaterin. Jedenfalls wollte sie das gerne werden, wenn ich mich zu einem äußerst günstigen Kredit bei der Bank meines Vertrauens entschließen würde. „Erst mal nicht“ sagte ich und hoffte, dass mir ihre Antwort einen Hinweis auf die Zeitspanne, über die wir hier sprachen, geben würde. Sie blieb freundlich, aber vage und versicherte mir, sich beizeiten wieder zu melden. Ich schlug die Bedeutung und Verwendung von „beizeiten“ im gleichen Lexikon nach und wurde wieder fündig.
Dieses Mal tippte ich meinen ersten Erfolg im Bereich absurdes Sprechtheater direkt in den Computer. Der zur Weltliteratur erhobene Lexikontext würde in naher Zukunft auf einer kahlen Bühne von sich windenden Gestalten vorgetragen werden.
Ort: Ein leerer Raum zwischen „erst mal“ und „beizeiten“.
Personen:
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