Rachel ist süß (German Edition)
verwunderlich, dass es nur noch eine Sache gab, die Kendra ganz sicher wusste. Sie wusste, dass ihre auch mit Mitte dreißig immer noch schmeichelhafte Konfektionsgröße von den Armeen schwarzer Lakritzschnecken, die sie neuerdings zum Grundnahrungsmittel erklärt hatte, bedroht war.
Der Rest der Säulen, auf denen ihr Leben bisher geruht hatte, war um sie herum zu Staub zerfallen und sie hatte sich bis jetzt noch nicht einmal die Mühe gemacht, ihn wegzufegen. Er bedeckte ihre Möbel, ihre Bilder und ihre Fenster und in den end- und schlaflosen Nächten, die sie neuerdings verbrachte, schrieb sie hin und wieder einzelne Worte mit dem Zeigefinger in die dicke Schicht. Das Wort Liebe zum Beispiel schrieb sie dreimal auf das Fenster und stellte fest, dass sie nicht wirklich wusste, was es bedeutete. Es hatte neben den drei Einträgen auf ihrer Scheibe noch 87.200.000 Einträge im Internet, war ihr aber in der Realität eindeutig noch nicht begegnet. Sie hatte schon während ihrer Ehe vermutet, dass das viel besungene Gefühl nur in den ausformulierten Sätzen fantasievoller Schriftsteller existierte. Jetzt, sechs Monate, nachdem ein paar Anwälte mit ungeheuren Aktenbergen auf die letzten Funken ihrer Gefühle eingeschlagen hatten, war sie sich ganz sicher.
Wenn Kendra ihre einsamen Nächte nicht mit Staub-Kalligraphie oder Google verbrachte, dann mit Fürchten.
Sie fürchtete, dass die außergewöhnlichen Dinge nur anderen Leuten passierten. Und dass sie dabei war, verrückt zu werden.
Da war es wieder, dieses Zeichen, dieses Dreieck, diese ungewöhnlichen drei Punkte in der Nacht, die nach ihr riefen. Kendra fixierte den Winterhimmel durch die Windschutzscheibe ihres Autos und griff nebenbei nach einem glänzenden Katzenpfötchen, das allzu vorwitzig aus der Tüte gelugt hatte. War sie denn die Einzige, die dieses Signal bemerkte und seiner Bedeutung auf der Spur war? Was machten die anderen schlaflosen, ziellosen und frisch geschiedenen Frauen denn sonst um diese Zeit? Sie schaute auf ihre Uhr und machte sich eine Notiz.
Zuerst waren ihr nur diese kurzen Nachrichten aufgefallen und sie wusste selbst nicht mehr genau, warum. Klein und unscheinbar tauchten sie unregelmäßig in den Onlineausgaben der örtlichen Tageszeitungen auf, in denen sie auf Anraten ihrer Freundinnen lustlos nach der einen Kontaktanzeige gesucht hatte, die zweizeilig und ortsnah doch noch das Feuer der großen Liebe in ihr entfachen würde. Immer wieder, wenn sie ernüchtert von der Einfallslosigkeit der NR, 35/180/72, BBB mit Kinderwunsch und Vorliebe für Spätburgunder ihre Augen hatte schweifen lassen, waren ihr diese Kurzmeldungen aus dem Einerlei der örtlichen Geschehnisse entgegen gesprungen.
Hier ein Brand in einem illegalen Bordell, dort ein lange gesuchter Mädchenhändler, der seinen Drogenrausch überraschend vor der Türe der Polizei ausschlief und immer wieder verschwundene Ehemänner. Verschiedene Städte in ihrer Region, verschiedene Taten. Für die Behörden ganz offensichtlich kein Grund, irgendeine Verbindung zu sehen, denn es gab für jeden Vorfall eine schlüssige Erklärung. Racheakte unter Banden, Kurzschlüsse und Kabelbrände, die Ehemänner waren offensichtlich alle an einem weit entfernten Automaten Zigaretten holen.
Sie schaute auf ihre Armbanduhr, jetzt waren die Punkte schon zwei Minuten am Himmel. Sie wühlte in der Lakritztüte nach ihrem nächsten Opfer und konnte nicht verhindern, dass sich in ihrem Kopf die Punkte in der Nacht wieder mit den leuchtenden Bildern ihrer unruhigen Träume mischten.
Diese speziellen Träume hatten ihren endlosen Nächten und müden Tagen den Rest gegeben. Genau genommen, hatten diese Träume dem, was noch von ihrem Leben übrig geblieben war, den Rest gegeben. Sie war schon fast daran gewöhnt gewesen, ihre Nächte mit den anonymen Schattengestalten in der Unendlichkeit des Internets zu verbringen, als diese wirren Traumsequenzen in den frühen Morgenstunden begonnen hatten. Von da an hatte sie sich nicht mehr nur wie ein hungriger Zombie durch leere und langweilige Chatrooms geklickt, sondern war auch noch ganz plötzlich mit dem Kopf auf der Tastatur liegend eingeschlafen und nach wenigen Minuten mit einem lauten Schrei und klopfendem Herzen erwacht. Den Rest dieser Nächte hatte sie sich davor gefürchtet, wieder einzuschlafen, und sich manchmal gefragt, ob sie Tim auch hinausgeworfen hätte, wenn man sie vorher über die Nebenwirkungen
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