Rachesommer
stellte sie fest.
Er sah zur Decke. »Ja«, seufzte er. »Ich konnte mein Bein nicht bewegen und rechtzeitig vom Gaspedal nehmen … aber verraten Sie das niemandem!«
»Keine Sorge.« Sie schmunzelte. »Sehen wir uns wieder?«
»Falls Sie mal nach Leipzig kommen«, antwortete er. »Am Wochenende fahre ich mit meiner Tochter in den Johannapark, wo wir mit dem Nachbarhund Frisbee spielen. Rex ist ganz verrückt danach.«
»Dieses Wochenende fahren Sie nirgendwohin«, unterbrach ihn der Notarzt und gab ihm eine Spritze direkt in die Wunde.
Pulaski biss die Zähne zusammen. »Dann eben nächstes Wochenende«, knirschte er.
»Möglich, hängt von Ihnen ab.« Der Arzt zog die Nadel raus.
Evelyn sah für einen Moment zur Seite. »Wenn Sie wieder auf den Beinen sind, würde ich Sie und Ihre Tochter gern nach Wien einladen. Der Prater könnte Ihnen gefallen.«
»Klingt gut.« Pulaski verdrehte die Augen.
Der Arzt wandte sich an Evelyn. »Wir müssen jetzt fahren und so schnell wie möglich operieren.«
»Alles klar.« Sie machte Anstalten, aus dem Wagen zu klettern.
»Einen Moment noch.« Pulaski versuchte, sich aufzusetzen, doch der Sanitäter drückte ihn sanft auf die Trage zurück.
Evelyn beugte sich zu ihm. »Was denn?«
Pulaski starrte zur Decke. »Ich weiß, Sie halten mich im Moment für ein wenig weggetreten, wegen diesem Zeug, das die mir hier spritzen … aber glauben Sie mir, ich bin völlig klar im Kopf.«
»Sicher … machen Sie rasch!«, drängte der Arzt.
»Diese Frau hat mir das Leben gerettet!«, fuhr Pulaski ihn an. »Da darf man doch wohl noch etwas sagen.«
Evelyn versuchte, ihn zu beruhigen. »Ich höre.«
»Ich bin nicht blind, wissen Sie. Und ich habe an diesem Tag einiges über Sie erfahren. Was in Ihrer Vergangenheit passiert ist, tut mir leid …« Er blickte ins Freie, als suchte er nach den richtigen Worten. »Ich bekomme fast täglich mit, wie man das Leben junger Leute zerstören kann - aber Sie sind stark.« Er griff nach ihrer Hand. »Ich möchte Ihnen nur sagen, dass Sie diesem Patrick eine Chance geben sollten. Er ist ein Glückspilz.« Pulaski ließ sie los.
Evelyn stieg aus dem Krankenwagen, stand wie paralysiert auf dem Kiesweg und brachte keinen Ton heraus.
»Okay, das war’s. Abfahrt!« Der Sanitäter warf die Hecktür zu.
Der Fahrer startete den Motor, und Evelyn sah dem Wagen nach, der das Grundstück verließ. Als die Rücklichter verschwunden waren, wandte sie sich um und ging zu dem zweiten Krankenwagen, der neben Gretas Motorrad parkte. Sybil saß im Fond. Ein Arzt kümmerte sich um sie. Daneben stand ein Kripobeamter, der sie im Auge behielt.
Der Fahrer ließ soeben den Motor an, und der Kripobeamte kletterte zu dem Arzt ins Wageninnere. Eilig lief Evelyn zu dem Auto.
»Halt, warten Sie! Ich möchte mitfahren.«
»Sind Sie eine Angehörige?«, fragte der Polizist. »Sybil hat keine Angehörigen.«
»Und wer sind Sie dann?«
»Evelyn Meyers, Anwältin.«
»Anwältin?« Der Beamte und der Arzt warfen sich einen kurzen skeptischen Blick zu. »Sie machen wohl einen Witz, oder?«
»Kein Witz.« Obwohl ich euch eine Menge Anwaltswitze erzählen könnte, dachte Evelyn.
»Wir fahren in die psychiatrische Klinik Hamburg. Steigen Sie ein, wenn Sie möchten«, entschied der Arzt. »Die Fahrt dauert aber mindestens zwei Stunden.«
»Ich weiß.« Evelyn kletterte in den Wagen und setzte sich neben Sybil auf die Trage. Automatisch griff das Mädchen nach ihrer Hand. Evelyn hielt sie und strich ihr mit der anderen Hand übers Haar. Währenddessen injizierte der Arzt dem Mädchen ein Beruhigungsmittel.
Sobald die Kleine schlief, musste sie Patrick anrufen, um ihm zu erzählen, dass alles überstanden war. Sie würde sich während der Fahrt das Handy des Kripobeamten ausborgen. Wenn Sybil schlief und Patrick sich keine Sorgen mehr machte, blieb ihr Zeit genug, um über alles nachzudenken.
Sie lehnte den Kopf an die Rückwand und schloss für einen Moment die Augen. Die Fahrt nach Hamburg würde lange dauern. Sie konnte die Ereignisse gewiss ein Dutzend Mal Revue passieren lassen. Doch eines würde sie auch dann nicht begreifen: Wie war es diesem zerbrechlichen Mädchen gelungen, Hockinson zu erwürgen und all die anderen Männer zu töten?
War Sybil überhaupt bewusst, dass sie die Morde begangen hatte?
Eine Woche zuvor …
69
Die Tachonadel zitterte. Hundertzehn km/h.
Das Cabrio holperte über die letzte Bodenwelle und raste in die steil nach
Weitere Kostenlose Bücher