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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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links abfallende Kurve, die zum Leuchtturm führte. »Ich weiß es nicht!«, brüllte Hockinson.
    Und ob der Scheißkerl es wusste! Lisa spürte, wie die Fliehkraft sie aus dem Sitz hob. Unwillkürlich nahm sie den Fuß vom Gaspedal.
    Sogleich trat Hockinson auf die Bremse. Die Reifen quietschten.
    Es war wie bei einem Achterbahnlooping. Der Fahrtwind zerzauste ihr Haar, die Möwen kreischten, und sie spürte das salzige Meerwasser auf den Lippen. Wenn sie sterben würde, musste es eben sein. Aber zumindest würde der Scheißkerl mit ihr krepieren. Sie riss die Arme hoch und schrie.
    Währenddessen umklammerte Hockinson das Lenkrad. Der Wagen rutschte gefährlich nahean den Klippen über die Straße. Sie beugte sich aus dem Wagen. Zwei Räder waren auf dem Asphalt, unter den anderen beiden spritzten Kieselsteine in den Abgrund.
    Hockinsons Gesicht war so weiß wie der Kalkstein der Felsen. Schweiß lief ihm über die Stirn. Wie ein Rallyefahrer riss er das kleine Sportlenkrad herum und schaltete hektisch herunter, sodass das Getriebe gequält aufkreischte.
    Am Ende der Steilkurve bekam er den Wagen unter Kontrolle.
    Fünfundsechzig km/h.
    Er ließ den Wagen ausrollen und lenkte ihn auf der nächsten Anhöhe zum Straßenrand. Einige Meter vor den Klippen hielt er. Unter ihnen lag der Leuchtturm auf der vorgelagerten Felseninsel.
    Hockinson zog die Handbremse an. Der Motor tuckerte immer noch im Leerlauf.
    Das Radio spielte »Stairway to Heaven«.
    »Unglaublich!« Lisa strich sich das Haar aus dem Gesicht.
    Hockinson sackte im Sitz zusammen. Seine Hände zitterten. Bestimmt stand er knapp vor einem Herzinfarkt.
    Lisa fühlte sich so lebendig wie nie zuvor. Sie rückte auf dem Sitz herum. »Gratuliere, Eddie, du bist noch am Leben. Wie lautet der letzte Name auf der Liste?«
    Hockinson sah sie nicht einmal an. »Steigen Sie aus«, keuchte er. »Sofort!«
    Mit einem Satz hockte sie rittlings auf ihm. Er wollte sich wehren, doch bevor er seine Hände nach oben bekam, hielt sie bereits den Schal umklammert und zog an beiden Seiten.
    Einige Perlen sprangen ab und verteilten sich im Fußbereich des Wagens.
    »Ich weiß es nicht«, röchelte Hockinson. »Der Name!«, brüllte Lisa.
    Sie zog fester. Der Seidenschal schnitt tief in seinen Hals, sodass sich die Hautfalten über den Stoff wölbten. Binnen Sekunden lief sein Kopf dunkelrot an. Er versuchte nach ihren Haaren zu greifen, doch sie straffte den Schal so sehr, dass seine Augen hervortraten und ihm Tränen über die Wangen liefen.
    »Der Name!«, brüllte sie.
    Er brachte keinen Ton heraus. Sein Mund klaffte auf, die Zunge hing wie ein aufgequollener Fremdkörper in seinem Rachen.
    Sie wusste selbst nicht, woher sie die Kraft nahm. Es kostete sie nicht einmal besonders viel Mühe, so fest zu ziehen, dass sie glaubte, sein Kopf könnte jeden Moment von den Schultern springen.
    Psychisch Kranke bringen oft enorme, unerklärliche Kräfte auf… Wer hatte das gesagt? Marty? Doktor Gessler?
    »Der Name«, flüsterte sie.
    Doch Hockinson konnte schon längst nicht mehr antworten. Seine Augen starrten in den blauen Himmel, wo die Möwen über demWagen kreisten. Möglicherweise war er jetzt ebenfalls dort oben. Nein, nicht dort oben, korrigierte sie sich und blickte auf den in der Hitze flimmernden Asphalt. Der Knabe schmorte in der Hölle. Sie ließ ihn los.
    Hockinsons Augen bewegten sich nicht. Sein Kopf fiel schlaff zur Seite.
    Hastig blickte sie zum Leuchtturm, dann in beide Richtungen der Küstenstraße. Weder Mensch noch Auto weit und breit. Wie viel Zeit blieb ihr?
    Sie sprang aus dem Wagen, spannte den Sicherheitsgurt über Hockinsons Bauch und ließ den Verschluss einrasten. Anschließend fing sie den Seidenschal ein, den der Wind herumwirbelte, und kroch damit unter den Wagen.
    Es stank nach Benzin und verbranntem Gummi. Sie wickelte das Ende des Schals um die Radaufhängung der hinteren Achse. Sie durfte keinen Knoten machen. Es musste natürlich aussehen.
    Nachdem der Schal straff herumgewickelt war, kroch sie unter dem Wagen hervor.
    »Scheiße!«, fluchte sie. Nun war der Absatz ihres Stöckelschuhs tatsächlich abgebrochen. Rasch schlüpfte sie aus den Schuhen und warf sie an den Straßenrand. Danach beugte sie sich ins Wageninnere, um die Handbremse zu lösen.
    Es fiel ihr nicht schwer, den Wagen anzuschieben. Die Kieselsteine knirschten unter den Rädern. Nach einigen Metern straffte sich der Schal. Hockinsons Kopf wurde nach hinten gezogen und gegen die

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