Rachesommer
der Pistole, seine Aussagen und Handlungen - der übliche Mist. Er unterzeichnete, knöpfte das Sakko zu und erhob sich.
Grußlos ging er an den beiden Beamten vorbei und machte sich auf die Suche nach Pinsgers Büro.
Eine dunkle Wolkenfront zog von Norden herunter. Der Chefarzt stand am Fenster und sah aus wie das nackte Elend. Pulaski hatte bisher selten einen Mann so leiden sehen wie ihn. Quälte ihn das schlechte Gewissen? Oder ratterte die endlose Gedankenspirale durch seinen Kopf, wie es bei manchen Menschen vorkam, die ein Unglück hätten verhindern können, wenn sie nur schneller zur Stelle gewesen wären?
Pinsger sah Pulaski mit traurigen Augen an. »Hätte ich früher auf Sie gehört, wären wir rechtzeitig ins Zimmer gekommen.«
Pulaski kannte derartige Argumente zur Genüge. »Und wenn meine Großmutter einen Bart hätte, wäre sie mein Großvater.«
Zunächst schien Pinsger nicht zu verstehen, doch dann lächelte er. »Sie haben ja Recht.«
»Wir kriegen den Kerl«, versicherte Pulaski ihm. »Es ist bloß eine Frage der Zeit. Wir wissen bereits einiges über ihn.« Er dachte an das Foto von dem Überwachungsvideo aus Markkleeberg und die Spuren, die der Mann am Osttor hinterlassen hatte. »Wie geht es Lesja?«
Müde hob Pinsger die Schultern. »Sie ist in einem kritischen Zustand. Auf die Bluttransfusion hat sie allergisch reagiert, und ihre Lungen haben versagt. Die Ärzte mussten sie in einen künstlichen Tiefschlaf versetzen.«
Der Doktor sah ihn lange an, dann lächelte er plötzlich. »Anfangs dachte ich, Sie wären ein ungehobelter, unsympathischer Kerl, aber ich habe mich geirrt. Die Kripoermittler, die das Areal auf den Kopf stellen, sind wirklich schrecklich. Die beweisen so viel Feingefühl wie eine Horde Mammuts.«
»Sehen Sie, es gibt immer etwas Schlimmeres.« Pulaski grinste. »Die Kollegen sagten, Sie wollten mich sprechen.«
»Ach ja.« Pinsger ging zum Schreibtisch, griff in die Schublade und holte eine aluminiumgraue Dose hervor. »Ihr Medikament.«
Dankbar nahm Pulaski die Patrone entgegen. Trotz des Tumults in der Anstalt hatte Pinsger es nicht vergessen. Pulaski bemerkte, dass auf dem Schreibtisch ein Dossier lag. Er kannte diese Art Formular. Das Stammdatenblatt einer Krankenakte. Er trat näher und glaubte, den Namen Lesja Prokopowytsch darauf zu erkennen.
»Was werden Sie jetzt tun?«, fragte der Arzt.
»Mein Dienst beginnt morgen früh. Ich habe noch ein paar Stunden Zeit, um mir Gedanken über den Fall zu machen.«
»Kann ich Ihnen dabei helfen?«
Pulaski warf einen Blick auf die Akte. »Wie hieß der Arzt, der Lesja und Sebastian 1998 in Bremerhaven behandelt hat, bevor die Kinder hierher überwiesen wurden?«
Pinsger seufzte. »Ist das alles?«
»Ja.«
Der Doktor betrachtete das Blatt, dann ließ er die Akte in der Schreibtischschublade verschwinden. »Es tut mir leid, aber das darf ich Ihnen nicht sagen. Es verstößt gegen die ärztliche Schweigepflicht, zumal Sie nicht offiziell an dem Fall arbeiten.«
Das hatte Pulaski seit gestern schon oft zu hören bekommen. »Ich weiß.«
Der kleine Arzt mit der dicken Brille und dem Blick eines aufgeschreckten Huhns kam auf ihn zu und schüttelte ihm zum Abschied die Hand. »Ich hoffe, Sie haben Verständnis dafür. Denn würde ich Ihnen sagen, dass der Arzt Vobelski hieß, würde ich mich strafbar machen.«
Pulaski grinste. »Auch Sie sind eigentlich gar kein so unsympathischer Kerl.«
Nachdem Pulaski in seinen Wagen gestiegen war, kramte er eilig im Handschuhfach herum. Endlich fand er die Kopie von Nataschas Krankenblatt und Martins Stammdatenblatt, die ihm Sonja Willhalm nachts an die Windschutzscheibe gesteckt hatte.
Martin Horner war nach dem Missbrauch am 17. August 1998 erstbehandelt worden, Natascha Sommer zwei Tage später, und zwar auf der Intensivstation im Klinikum Bremerhaven. Auch in diesen beiden Fällen war der Arzt derselbe gewesen: Dr. Konrad Vobelski.
Konnte sich der Mann nach so langer Zeit noch erinnern, was den vier Kindern zugestoßen war? Arbeitete er überhaupt noch in Bremerhaven? Die Fahrt dorthin würde drei Stunden dauern. Pulaski startete den Wagen und griff zum Handy.
45
Spätsommerliche Gewitter verbreiteten stets eine eigentümliche Atmosphäre, die man sonst nie zu spüren bekam. Wenn der Sturm den Regen an die Fensterscheiben drückte, die Blitze die Landschaft aus der Dunkelheit rissen und das Donnergrollen wie eine Lawine über die Berge rollte, hatte
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