Rachesommer
sich Evelyn als Kind stets in eine Decke gehüllt und mit einer Tasse Kakao in Händen ans Fenster gekauert.
Sie hatte die Sekunden gezählt, die zwischen Blitz und Donner verstrichen, und wurde aufgeregt, sobald sich das Gewitter näherte. Ihr Vater war meist durch den Sturm gelaufen und hatte ihr Fahrrad und die Spielsachen ihrer Schwester in den Schuppen gezerrt, während ihre Mutter Decken und Kerzen vom Speicher holte, falls der Strom wieder einmal ausfallen würde. Wenn das geschah, rückte die Familie so nahe zusammen wie sonst nie. Evelyn konnte förmlich den dampfenden Kakao in ihrem Kinderbecher riechen, Omas Apfelstrudel und Vaters nasse Kleider, wenn er durch das Wohnzimmer ins Bad stapfte, um sich abzutrocknen. Manche Kindheitserinnerungen waren ziemlich hartnäckig. Vielleicht war das der Grund, warum sie Gewitter so liebte.
Doch mittlerweile hatte der Sturm, durch den sie fuhr, nichts mehr mit den Sommergewittern ihrer Kindheit zu tun. Sie hatte kaum zehn Meter Sicht, und das monotone Geräusch der Scheibenwischblätter begann langsam zu nerven. Es war schon verrückt. Sie könnte jetzt in einem Flugzeug Richtung Wien sitzen und von einer Stewardess eine warme Alutasse mit Nudeln serviert bekommen, mit Soße, Besteck, Salz und Pfeffer - alles in winzige Plastikfolien eingeschweißt. Was würde sie jetzt dafür geben, die Rückenlehne zurückklappen zu können, sich in eine Decke zu hüllen und die Augen zu schließen! Aber sie musste unbedingt diesen Smolle aufsuchen …
Sie versuchte, sich aufzumuntern, und begann, Pläne zu schmieden. Wenn ihr Besuch in Deutschland beendet war und sie Licht in den Airbag- und Kanaldeckel-Fall gebracht hatte, würde sie richtigen Urlaub nehmen. Eine Karibik-Kreuzfahrt buchen oder zumindest eine Woche in einem Wellness-Hotel verbringen, um auf andere Gedanken zu kommen.
Sie blickte auf die Uhr. Es war noch nicht zu spät, um Conny anzurufen. Sie wählte die Nummer der Nachbarstochter, die sich während ihrer Abwesenheit um die Katzen kümmerte.
»Hallo Conny.«
»Ach, Sie sind es.« Das Mädchen machte eine Pause. »Ich habe Sie nicht erkannt.«
»Stimmt …« Evelyn erinnerte sich. Sie hatte die Nummer unterdrückt und vergessen, es rückgängig zu machen.
»Wo sind Sie?«
»Immer noch in Deutschland. Ich fürchte, mein Besuch dauert länger.«
»Kein Problem. Bonnie und Clyde geht es gut. Jedes Mal, wenn ich in Ihre Wohnung gehe, liegen die beiden faul auf der Couch und rühren kein Ohr. Die haben wahrscheinlich nicht mal bemerkt, dass Sie fort sind.«
»Ja, bestimmt.« Evelyn lächelte. In Wahrheit wussten die beiden ganz genau, dass ihre Dosenöffnerin weg war. Sobald Evelyn zurückkam, würden die Katzen sie großzügig ignorieren, und Bonnie würde aus Protest vermutlich wieder in ihre Schuhe pinkeln. Aber die beiden waren nun mal ihr Ein und Alles.
»Ach ja«, sagte Conny. »Ein Amazon-Paket hat vor Ihrer Tür gelegen. Ich habe es unter mein Bett geschoben. Darf ich es öffnen?«
Evelyn lachte. Das Mädchen war genauso neugierig wie ihre Mutter. Einmal pro Woche joggte Evelyn mit Tanja durch den Stadtpark, und manchmal, während Conny am Samstagnachmittag Hausaufgaben machte, ging sie mit Tanja ins Kaffeehaus, um mit ihrer Nachbarin über deren Job als Krankenschwester zu plaudern oder sich Ehegeschichten anzuhören. »Darf ich?«, wiederholte Conny.
»Wenn du willst. Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht. Du wirst nur Krimis von Martha Grimes, Stieg Larsson und Mary Higgins Clark finden.«
»Kenne ich nicht.«
»Was liest du denn?«
»Thomas Brezina«, antwortete Conny wie aus der Pistole geschossen.
Sie redeten noch eine Weile, bis Evelyn Tanjas Stimme im Hintergrund hörte, die Conny zum Zähneputzen ins Badezimmer rief.
Sie verabschiedeten sich. »Schlaf gut.« Evelyn legte auf.
Als die Nadel der Dieselanzeige irgendwo zwischen Heide und Husum in den roten Bereich wanderte, hielt sie an einer Tankstelle und kaufte im Shop auch gleich ein Thunfischsandwich, eine Dose Cola und einen Becher Espresso. An Schlaf war nicht zu denken.
Während sie aß und die Sekunden zwischen Blitz und Donner zählte, war das Radio abgedreht. Die Abstände wurden kürzer. Sie hatte keine Lust auf Musik oder das Geschwafel eines Nachrichtensprechers. Im Blitzlicht sah sie, wie sich Schafherden unter die Vordächer der Futterkrippen drängten, Radfahrer mit Zeitungen über dem Kopf die Straßen entlangradelten und der Wind Strohbündel durch die Landschaff
Weitere Kostenlose Bücher