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Rachesommer

Rachesommer

Titel: Rachesommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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des Raumes kniete ein grobschlächtiger Mann mit grauem Vollbart auf einem Hocker. Er trug eine Arbeitshose und ein fleckiges Rippshirt. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Er schien nicht einmal erstaunt, als er Evelyn bemerkte. Sein Blick blieb teilnahmslos, traurig und grau - genauso grau wie der Strick um seinen Hals, der neben dem Ofenrohr zum Deckenhaken führte.
     
    46
     
    Schlagartig befand sich Evelyn in einer anderen Zeit. Zurückgeworfen in ein Loch, das so weit entfernt schien, aber nie aufgehört hatte zu existieren. Sie vernahm ihre eigene Stimme - das Schluchzen einer Zehnjährigen -, spürte den straff um ihren Hals gezogenen Strick und den stinkenden Jutesack, der sich wie die Nacht über ihr Gesicht legte. Bei jedem Atemzug …
    … drangen die Stofffasern tiefer in ihren Mund und drohten sie zu ersticken. Dann spürte sie die fleischigen Finger, die über ihren Körper tasteten. Zunächst an ihrem Hals entlang, an ihrem Rücken hinunter, dann zu den Beinen und schließlich zwischen die Beine. Sie wollte sich vorstellen, wie ein mehrgliedriges Insekt auf ihr herumkrabbelte, nur ein Insekt, nichts weiter als ein lästiges Tier, das sie zerdrücken konnte, wenn sie wollte, aber es gelang ihr nicht. Dieses Insekt hatte raue Fingerkuppen und stank nach Alkohol und Zigaretten. Sie hörte den Mann keuchen, roch den Atem aus seinem faulen Mund. Aus heiterem Himmel ließ er von ihr ab, als wollte er sie für später aufheben. Am liebsten hätte sie ihn bei sich behalten, hätte ihn nie gehen lassen wollen. Sollte er doch ihren Körper betasten, so lange er wollte … mit ihr machen, was immer er wollte. Sie hätte es zugelassen, ohne einen Laut von sich zu geben. Es war immer noch besser, als das hilflose Jammern ihrer kleinen Schwester zu hören.
    »Verschwinden Sie!«
    Evelyn schreckte hoch.
    Der Mann wischte sich mit dem Unterarm über den Bart. Speichel lief ihm aus dem Mund. »Gehen Sie doch bitte.« Seine Stimme versagte.
    Sie glaubte, einen Anflug von Tränen in seinen Augen zu sehen. Doch statt zu gehen, betrat sie den Wohnwagen und zog die Tür hinter sich zu. »Was wollen Sie hier?«
    Sie rieb sich die Oberarme. »Mir ist fürchterlich kalt. Haben Sie eine Tasse Tee?«
    »Wer zum Teufel sind Sie?«
    »Ich kann Sie gut verstehen«, sagte Evelyn. »Mit zehn Jahren wollte ich mir zum ersten Mal das Leben nehmen.«
     
    Eine Viertelstunde später saßen sie in der Küchenzeile auf der Couch und tranken Tee mit Rum. Smolle hatte den Vorhang zugezogen, der die Küche vom Wohnbereich trennte, damit Evelyn den Strick nicht im Blickfeld hatte, der neben dem Heizungsrohr baumelte. Doch der Vorhang konnte nichts daran ändern, dass die Bedrohung immer noch da war. Derartige Pläne verschwanden nicht von einer Sekunde auf die andere aus dem Kopf eines Menschen.
    Obwohl Smolle mit seinem struppigen Vollbart, den verblassten Tätowierungen an den Armen und der tiefen Stimme wie ein rauer Seebär wirkte, war er im Grunde ein seelenguter Mensch. Evelyn brauchte nicht einmal eine Minute, um das herauszufinden. Ein Blick in seine Augen genügte. Allein die Art und Weise, wie er ihren Tee zubereitete, ihr eine Decke reichte und ein Handtuch gab, damit sie sich die nassen Haare trocknen konnte, bewies, dass er kein schlechter Mensch sein konnte. Als sie ihn fragte, warum er nicht mehr als Kapitän arbeitete, kam er ohne Umschweife zum Punkt.
    »Die letzte Fahrt ist bestimmt schon zehn Jahre her. Habe gekündigt. Wollte woanders anheuern, als Kapitän oder Schiffsoffizier. Aber die Saison war vorüber. Hätte auch als Steuermann oder Maschinist gearbeitet, wäre mir gleich gewesen, aber die letzten Schiffe waren ausgebucht.« Gedankenverloren klimperte er mit dem Löffel in der Tasse.
    Evelyn fiel eine hässliche Narbe an der Innenseite seines linken Unterarms auf, die aussah, als hätte er sich eine Tätowierung über der Gasflamme weggebrannt. Möglicherweise hatte dieses Motiv schlimme Erinnerungen geweckt.
    »Bis zur nächsten Saison dauerte es noch ein halbes Jahr. Der Winter machte mich verrückt. Dachte zu viel über die Ereignisse nach und begann erst richtig mit dem Trinken.« Er zuckte mit den Achseln. »Im Frühjahr fand ich keinen Job mehr. Wollte es nicht wahrhaben, aber in den wenigen Monaten war ich vollends zum Säufer geworden.«
    Seine Hände zitterten, als er die Teetasse zum Mund führte. Durch das kleine Fenster sah Evelyn, wie mehrere Blitze hintereinander den Strand erhellten. Die Wellen

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