Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
zusammen und hoffte inständig, dass er es nicht bemerkt hatte.
»Wie ich diesen Tag erlebt habe? Das ist aber eine sonderbare Frage. Du meinst den Tag, an dem er starb?«
Natürlich meinte sie diesen Tag, das wusste er doch ganz genau. Sie nickte.
»Warum?«
»Weil es jemanden gibt, der die Geschichte kennt. Dort draußen läuft einer rum, der über alles Bescheid weiß.«
»Über was Bescheid weiß, Fran?«
Sie schloss die Augen. Sie hatte gehofft, er würde sie nicht so quälen, aber das war wahrscheinlich zu viel verlangt in Anbetracht der Tatsache, wie sehr er solche Situationen genoss.
»Wie Jonas starb. In meiner Erinnerung wussten nur wir beide davon. Du und ich. Darum frage ich dich jetzt: Irre ich mich?«
Lange saß er schweigend da und starrte sie an.
»Ja«, sagte er schließlich. »Du irrst dich. Aber das weißt du tief in dir, stimmt’s? Du weißt, dass es noch eine dritte Person gab, aber du willst dich nicht erinnern.«
KAPITEL 61
Die beiden Hunde vertrugen sich gut. Das war mehr, als was man über die beiden Männer sagen konnte, stellte Dicte fest, etwa eine halbe Stunde nachdem sie zu Hause angekommen waren.
»Lass mich das zusammenfassen. Ihr habt also die Leiche des Mädchens, deiner Freundin, gefunden, an einem Baum aufgehängt. Ihr habt sie heruntergeholt, den Tatort verlassen und erst dann – anonym – die Polizei gerufen?«
Bo hatte seine milde Stimme aufgesetzt. Die einen in so viele Fallen locken konnte. Aber Peter B ließ sich nicht locken. Einen Augenblick zu lange bekämpften sich die beiden mit Blicken. Dann stieß ihr Sohn den Stuhl zurück und stand vom Tisch auf, als wäre der Umstand eines gemeinsamen Essens mit begleitendem Gespräch für ihn vollkommen unbekannt oder einfach nicht von Interesse. Er verhielt sich so, wie sein erster Eindruck es vermittelte: wie ein Einzelgänger, ein Einsiedler, den sie im Wald aufgesammelt hatte. Seine Kleidung war dreckig und übersät mit Blutflecken, die Lider waren gesenkt, die Finger benötigten dringend den Kontakt mit einer Nagelbürste.
Wortlos stampfte er übertrieben laut die Stufen zu Roses altem Kinderzimmer hoch, das sie notdürftig für ihn hergerichtet hatte. Nicht, dass seine Abwesenheit einen großen Unterschied machte. Seit sie von Svendsens Bellen und Bos skeptischer, aber schweigender Miene empfangen worden waren, hatte er nicht mehr als insgesamt zehn Wörter von sich gegeben.
Aber jetzt hatte Bo sein Schweigen gebrochen, sie konnte außerdem seine Gedanken lesen und hatte Schwierigkeiten, seinem Blick standzuhalten.
Er drehte seinen Hals in Richtung Treppe, die Boutrup soeben dröhnend hinaufgestiegen war.
»Na, das war dann wohl zu viel für unseren fröhlichen Naturburschen.«
»Hör auf, Bo.«
Er selbst sah alles andere als fröhlich aus.
»Aufhören! Ich habe gerade erst angefangen. Du schleppst ohne jede Vorwarnung einen flüchtigen Strafgefangenen mit nach Hause. Was erwartest du von mir? Dass ich den roten Teppich ausrolle und ein Dreigängemenü zubereite?«
»Das ist doch nur vorübergehend. Es kommt alles wieder in Ordnung.«
Ihr schlechtes Gewissen meldete sich. Sie hatte es nicht geschafft, ihn vorher anzurufen und darauf vorzubereiten. Er hatte sie zwar hintergangen mit dieser Renate Guldberg, aber deswegen verdiente er noch lange nicht, in eine Sache mit hineingezogen zu werden, die als »Strafvereitlung« bezeichnet werden konnte. Nicht ohne vorher informiert zu sein, worum es bei der ganzen Sache ging.
»Alles ist relativ«, sagte er. »Wie vorübergehend?«
Der Unterton in der Frage sagte etwas anderes, da sprach das Alphatier in ihm: Kannst du bestätigen, dass ich nach wie vor der Mann im Haus bin? Es irritierte sie, dass sie angesichts einer solchen Tragödie blöde Spielchen spielen sollte, darum wurde ihre Antwort ungewollt bissig.
»Unter Umständen so vorübergehend wie deine Erinnerungslücke über die Teilnehmerliste in London.«
Sie bereute es und versuchte es zu retten, bevor er darauf reagieren konnte.
»Du hast selbst gesagt, dass ich ihn finden soll. Du hast selbst gesagt, dass du in so einer Situation alles tun würdest, um deinem Sohn zu helfen.«
Bo nahm die Packung Rosinen, die auf dem Tisch lag.
»Ich meinte damit aber eigentlich nicht, einen Mord zu decken.«
»Ich decke keinen Mord. Ich habe bei der Polizei angerufen!«
Er hatte die Ellenbogen auf den Tisch gestützt und sich nach vorn gelehnt. Dort am Tisch hatten sie ein schnelles Abendbrot gegessen.
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