Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
Wagner in Salz-und-Pfeffer-Muster, kurze Haare,gebogene Nase, südländische Hautfarbe und seine obligatorische Tweedjacke. Und Lena Lund mit ihrem perfekt ovalen Gesicht und in einem perfekt sitzenden Hosenanzug. Svendsens Bellen hatte eine alarmierende Lautstärke erreicht. Sie schaffte es noch, die Treppe hochzurennen und an Roses Zimmertür anzuklopfen. Peter B lag auf dem Bett und las ein Buch.
»Du bleibst hier. Und kein Laut, hörst du?«
Er sah vom Buch auf. Es war
David Copperfield
von Charles Dickens.
»Steht die Kavallerie vor der Tür?«
Sie antwortete nicht, sie sah nur die brennende Esche vor sich. Vielleicht war er innerlich schon so verkohlt, dass er gar nicht mehr zu retten war.
»Mir fehlt nur noch eine einfache Antwort auf eine einfache Frage«, sagte sie. »Warum kannst du sie mir nicht geben? Damit ich ihnen mit etwas in der Hand begegnen kann.«
Sie wartete. Würde er jetzt seine Unschuld beteuern? Oder seine Schuld eingestehen? Sie gab ihm eine Sekunde, zwei. Aber seine Entgegnung bestand nur darin, dass er seine Nase im Buch vergrub und umblätterte. Bei Sekunde drei klingelte es an der Tür. Jetzt bellten zwei Hunde.
»Du machst es mir wirklich nicht leicht.«
Er sah nicht vom Buch auf, als er erwiderte: »Wer hat denn gesagt, dass es leicht sein würde?«
Sie schloss die Tür zu Roses Zimmer hinter sich und ging runter.
»Guten Tag. Wir dachten, wir schauen mal vorbei.«
Wagner war ungewöhnlich formell. Er wirkte unbeholfen, fast, als würde er sich entschuldigen, in ihre Privatsphäre eingedrungen zu sein.
»Sie haben sich doch bestimmt schon kennengelernt. Dicte Svendsen. Lena Lund, unser neues Mitglied im Ermittlerteam.«
Sie gaben sich die Hände, vollkommen absurd war das. Wie eine Brise aus Kaffeeduft und Zimtschnecken aus der Kantinestrich die Erinnerung an die Zeiten über ihre Haut, als Wagner und sie sich in seinem Büro gegenübergesessen hatten. Schon oft hatten sie sich zur Aufklärung eines Falles zusammengetan und hatten in der etwas unglücklichen Allianz aus Polizei und Presse zusammengearbeitet. Aber dieses Mal nicht. Jetzt war alles anders.
»Dürfen wir reinkommen?«
Lena Lund hatte sich bis unter die Zähne mit ihrem Lächeln bewaffnet.
»Aber selbstverständlich.«
Dicte führte sie ins Wohnzimmer, das nur unwesentlich aufgeräumter war als bei Lunds letztem Besuch. Die zusammengelegte Wäsche stapelte sich auf dem Couchtisch. Ob ein erfahrener Detektiv sehen könnte, dass sie von zwei verschiedenen Menschen gefaltet worden war? Die Paranoia hatte sie fest im Griff, als sie sich im Raum nach Hinweisen umsah, die auf den neuen Gast des Hauses hindeuten konnten.
»Neuer Hund?«
Lena Lund streichelte Kajs Kopf. Er quittierte die Zuwendung, indem er an ihrer Hose schnüffelte, allerdings in ungebührlicher Höhe.
»Feriengast.«
»Ein ganz schöner Brocken, so größenmäßig. Aber das gibt einem wahrscheinlich Sicherheit.«
»Wenn ich Sicherheit wollte, würden wir jetzt hier nicht zusammensitzen. Ich will nicht unhöflich sein, aber ich war gerade auf dem Weg zur Arbeit.«
Sie sah zu Wagner, der an der Terrassentür stand und durchs Fenster sah.
»Was kann ich für euch tun?«
Er drehte sich zu ihr um. Müde sah er aus, aber sie kannte ihn besser. Seine Augen führten einen in die Irre, weil er schwere Lider hatte und dadurch immer etwas schläfrig wirkte.
»Ich habe mitbekommen, dass du den gesuchten Peter Boutrup kennst?«
Sie hatte keine Zeit, nachzudenken.
»Ja.«
»Warum hast du uns das nicht früher erzählt?«
»Ich kann euch nichts von Belang dazu sagen«, log sie. »Meine Verbindung zu ihm ist unbedeutend.«
»Aber eng genug, um ihn letztes Jahr häufiger im Krankenhaus besucht zu haben.«
Lena Lund hatte sich in den Sessel gesetzt und ihre Beine fest zusammengepresst. Wahrscheinlich, um Kaj nicht einzuladen. Wagner sah Dicte an und wartete offenkundig auf eine Antwort von ihr.
»Ich kenne ihn, wie ich schon sagte, oberflächlich. Ich wollte seine Geschichte für eine Reportage über Gefängnisinsassen und über die Debatte um Organtransplantationen verwenden. Er wartete dort auf eine neue Niere.«
Die Unwahrheiten purzelten ihr ohne Mühe aus dem Mund. Lena Lund sah skeptisch aus. Wagner hatte sich wieder zum Fenster gedreht, ihm war die Situation sehr unangenehm. Dictes Gedanken überschlugen sich. Lena Lund hatte offenbar in ihrer niemals endenden Jagd herausbekommen, dass sie letzten Sommer ein paarmal im Krankenhaus gewesen
Weitere Kostenlose Bücher