Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
Wagner.
»Nein.«
Hansen steckte seine Hand ein zweites Mal in eine der Klarsichthüllen und holte ein Blatt Papier heraus.
»Das hier ist eine Quittung vom 4. Mai dieses Jahres. Sie belegt, dass Sie an diesem Tag mit Ihrer Karte ein Paar Schuhe der Marke Adidas Superstar G2 im Kvickly in Åbyhøj gekauft haben.«
Er machte eine Pause, um ihr die Möglichkeit zu geben, ihnen entgegenzukommen. Hansen war ein gutherziger Mensch, der selbst vier Kinder hatte. Wagner wusste, dass ihn diese Situation tief berührte.
»Okay, meinetwegen. Dann habe ich eben diese Schuhe gekauft, na und?«
Ihre Augen sahen sich suchend um, als würden sie nach einem Versteck Ausschau halten. »Ich habe zu tun, ich habe ein krankes Kind …«
»Könnten Sie uns die Schuhe bitte zeigen?«
Sally Andersen saß wie versteinert vor ihnen, und Wagner dachte zuerst, dass sie Hansens Frage vielleicht nicht gehört oder einfach dichtgemacht hatte. Aber dann stand sie plötzlich auf, verschwand im Flur und kam Sekunden später mit den Schuhen in der Hand zurück. Hansen nahm sie entgegen und steckte sie in eine Plastiktüte.
»Was zum Teufel tun Sie da, Mann?«
»Kennen Sie einen Mann namens Cato Nielsen?«
Sie schwieg. Wagner sah, wie es in ihr arbeitete. Ihre Lippen bewegten sich lautlos.
»Das ist mein Freund. Aber er ist nicht hier. Ich habe ihn schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen.«
»Woher kennen Sie ihn?«
Sie seufzte. Es war ein langer Seufzer. Dann klopfte sie ihre Asche ab.
»Von der Arbeit.«
»Im Skråen in Odder?«
Sie nickte.
»Ja, vom Skråen. Ich arbeite da fünfzehn Stunden die Woche, in der Küche.«
Sie lächelte, aber ihre Augen nicht. »Das wissen Sie doch schon alles. Und bestimmt auch, dass ich früher in der Klinik untergebracht war. Aber jetzt bin ich clean.«
Das Wort »untergebracht« sagte sie mit einem Ton voll beißender Ironie. Jan Hansen nickte ihr freundlich zu.
»Sie haben also einen Entzug dort gemacht. Wann war das?«
»1999.«
Sie sah hoch zu ihnen, als würde sie weitere Fragen erwarten, als diese aber nicht kamen, entschied sie sich dafür, weiterzuerzählen.
»Ich habe William … also Villy, meinen Exmann, während meines Aufenthaltes kennengelernt. Er arbeitete vor allem mit den ganz jungen Drogenabhängigen. Ich kannte ihn schon von früher …«
»Und dann haben sie geheiratet und Kasper bekommen?«, fragte Wagner.
Sie nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette.
»Dann bekamen wir Kasper. Mit drei Jahren wurde er krank. Unsere Ehe hat nicht gehalten. Das hätte sie allerdings auch sonst nicht.«
Sie nahm einen weiteren Zug und fügte hinzu: »Mir steht vomAmt Hilfe für Kasper über einen Pflegedienst zu, und ich habe zum Glück eine Schwester, die sich sehr um ihn kümmert. Sonst würde ich hier nie rauskommen oder zur Arbeit gehen können.«
»Und wie steht es um Ihre Finanzen?«, fragte Hansen, der Fürsorgliche.
»Die stinken«, räumte Sally Andersen ein.
Sie weiß genau, dass sie verdächtigt wird, dachte Wagner. Sie weiß es, aber ihr scheint es fast egal zu sein.
»Können Sie uns bitte sagen, was Sie in den Tagen vor dem 11. September dieses Jahr getan haben?«
Ein fragender Blick. Wagner fuhr fort: »Wir untersuchen den Mord an Adda Boel, die vermutlich am 10. September in ihrer Wohnung in der Østergade in Århus erwürgt wurde. Kannten Sie diese Frau?«
Sally Andersens Gesichtszüge waren härter geworden. Mit unverhohlenem Hass in den Augen sah sie die beiden Polizisten an.
»Natürlich kannte ich sie.«
»Haben Sie Adda Boel ermordet?«
Wagner hatte diese Frage gestellt und überlegte zu spät, ob der Zeitpunkt richtig gewählt war. Es war alles immer eine Frage des Timings. Eine Frage der Psychologie. Er hoffte, dass sich alles fügte, damit sie diese unselige Geschichte endlich abschließen konnten.
»Ja«, antwortete sie und pustete ihnen den Rauch ihrer Zigarette direkt ins Gesicht. »Ja, ich war das. Ich hatte einen guten Grund dafür, und ich bekomme mildernde Umstände.«
Sie sah sie voller Überzeugung an.
»Ich bekomme Strafrabatt. Mein Sohn liegt im Sterben, und mein Therapeut sagt, dass ich unter einem Posttraumatischen Stresssyndrom leide, weil ich schon so lange mit Kaspers Todesurteil lebe.«
Sie wiederholte: »Ich war das. Und ich habe es allein getan.« Jan Hansen nutzte die Gelegenheit: »Können Sie uns bitte erzählen, was passiert ist?«
Sie schnipste die Asche ab, ihr Handgelenk war so dünn, dass man es ohne Schwierigkeiten
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