Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
ihr durch denKopf, dass er ihr Bollwerk war gegen das Böse und die Erinnerungen an die dunklen Jahre, die angerauscht kamen und ihr Inneres aus dem Gleichgewicht brachten. Sie konnte nicht auf ihn verzichten. Der bloße Gedanke an ihn würde sie durch den bevorstehenden Alptraum geleiten, und es würde ein Alptraum werden, daran zweifelte sie nicht. Sie würden ihr das alles vor die Füße werfen. War es das wert? Sie könnte doch genauso gut das Handtuch werfen, ihre Kandidatur zurückziehen und ihre Koffer packen?
Ja, vielleicht. Aber was für einen Sinn würde das alles haben? Womit sollte sie ihr Leben verbringen, wenn nicht mit dem Streben nach Macht. Nicht um der Macht willen, natürlich, sondern um der Bürger willen, für die Schwachen, die sich nicht selbst verteidigen können. So wie es ihr selbst ergangen war. Was für eine schöne Vorstellung, die Tyrannen der Strafe zuzuführen, die sie verdienten. Das war ein Traum, der sie tags und nachts begleitete.
Sie machte das Bett, bohrte die Nase in die Bettwäsche und sog den Duft ihrer Körper ein, spürte dabei die Augen Jesu in ihrem Nacken. Dann wählte sie mit Sorgfalt ihre Garderobe und fühlte sich gewappnet.
KAPITEL 10
Dicte parkte in einiger Entfernung von dem gelben Einfamilienhaus am Straßenrand. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Sie war etwa zehn Minuten zu früh und hatte noch genügend Zeit, ein letztes Mal ihre Notizen und ihre Strategie durchzugehen. In Gedanken ließ sie erneut die politische Karriere von Francesca Olsen Revue passieren: Parallel zu ihrem BWL-Studium war ihr politisches Interesse geweckt worden, und sie hatte sich in der größten bürgerlichen Oppositionspartei engagiert. Sie hatte sich zur Kommunalwahl aufstellen lassen und war so gerade eben gewählt worden. Am Anfang war sie eher unauffälliggewesen, aber nach ein paar Lehrjahren hatte sie begonnen, ihre Themen mit Sorgfalt und politischem Gespür auszuwählen, und traf meistens den Nerv der Zeit, sie wusste, was die Wähler beschäftigte, und hatte die Fähigkeit, die Medien zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Das hatte ihr viele interne Stimmen verschafft und sie schnell auf ein paar einflussreiche Posten katapultiert, so zum Beispiel in die Kommission für soziale Angelegenheiten. Sie half mit, die Verwaltungsstrukturen zu verschlanken, und es gelang ihr, eigene Projekte durchzusetzen. Sie hätte den durchaus schweren Posten als Sozialstadträtin nur allzu gerne angenommen, aber dieser war ihr nicht zugesprochen worden. Stattdessen hatte sie jetzt den Posten als Kulturstadträtin inne, allerdings war jedem Beobachter mehr als klar, dass ihr Ehrgeiz in eine andere Richtung ging. Ein Stadtratsposten war ein guter Ausgangspunkt für das Amt des Bürgermeisters.
Dicte blätterte ihre Notizen durch, während sie beobachtete, wie die feine Straße erwachte und ihre Bewohner sich auf den Weg zur Arbeit machten.
Otto Kaiser aus der Hauptstadtredaktion hatte in dem Augenblick angerufen, als sie gerade von der Redaktion in der Frederiksgade zu Frau Olsen in den Vorort Skåde aufbrechen wollte.
»Setz deinen Fokus vor allem auf das Persönliche. Den Einbruch. Das Auto, das in die Luft geflogen ist. Da gärt was unter der Oberfläche. Finde heraus, ob und in was sie verstrickt ist. Wer ihre Feinde sind.«
Er hatte die Angewohnheit, ins Telefon zu schreien, weswegen sie den Hörer weit vom Ohr entfernt hielt.
»Und dann diese Rettungsaktion. Keine Frage, sehr mutig, sich mit einem Vergewaltiger anzulegen. Aber was hatte sie eigentlich am Wochenende mitten in der Nacht in einer Gegend mit sozialem Wohnungsbau zu suchen? Haben wir jemals eine Antwort auf diese Frage erhalten? Der Mann lag nach ihrer Attacke praktisch im Koma, heißt es. Man möchte dieser Fraunachts nur ungern in einem dunklen Treppenhaus begegnen«, sagte Kaiser.
»Sie wollte das damals nicht kommentieren«, erinnerte ihn Dicte.
»Aber darauf will ich doch hinaus. Eines Tages tauchte sie bei den Konservativen auf. Die meiste Zeit quasi unbekannt in der breiteren Schicht der Bevölkerung. Und plötzlich ist sie Everbody’s Darling. Es zeigt sich, dass sie eine rhetorische Begabung hat und damit in einer Liga von … von …« Es war deutlich, dass er nach anderen Frauen suchte, mit denen er sie vergleichen konnte, da ihm aber keine einfiel, sprang er einfach weiter in seinem Vortrag: »… und man spricht mittlerweile von ihr als einer ernstzunehmenden Bedrohung für die Sozialdemokraten. Was passiert da
Weitere Kostenlose Bücher