Rachlust - Dicte Svendsen ermittelt
IhreBeine knickten unter ihr weg, und sie musste sich am Autodach festhalten. Dann erst nahm sie ihre Tasche und machte sich auf den Weg, zuerst ging sie, dann lief sie, so schnell sie konnte.
Die Auffahrt war gigantisch und verlassen, bis auf die obligatorische Katze, die auf einer Mauer saß und sich putzte. Es war ein sehr moderner Hof. Die Scheune sah nagelneu aus und das große, glänzende Getreidesilo auch. Das Wohngebäude war ein modernes Einfamilienhaus und hätte genauso gut auf einem großzügigen Grundstück in Risskov stehen können. Allerdings hätte es dann wahrscheinlich auch das Doppelte gekostet.
Sie drückte die Klingel und zuckte zusammen.
»Bitte seid zu Hause«, flüsterte sie. »Lasst mich rein!«
Es dauerte eine Ewigkeit. Dann endlich hörte sie Schritte, und ein Mann in ihrem Alter öffnete die Tür. Er trug ein langärmeliges weißes Unterhemd, das er in seine Arbeitshose gesteckt hatte, die wiederum von roten Hosenträgern gehalten wurden. In einer Hand hielt er ein Käsebrot, auf dem letzten Bissen kaute er noch herum.
»Sind Sie von der Getreide- und Futterzentrale?«
Diese Frage verschlug ihr für einen Augenblick den Atem, sie musste nach Luft schnappen.
»Ich wollte nur … Ich bin draußen im Schlamm steckengeblieben … Ich war an der Klippe beim Fischerhäuschen … Das mit der grauen Dachgaube.«
Der Mann legte die freie Hand gegen den Türrahmen und lehnte sich dagegen.
»Ich warte nämlich auf die Futterzentrale und habe mir so lange einen Happen zu essen gemacht.«
Er wedelte mit dem Käsebrot in der Luft. »Sie sehen, ehrlich gesagt, aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen. Geht es Ihnen gut?«
Dicte bekam keine Gelegenheit, zu antworten, denn der Mann ließ den Türrahmen los, trat einen Schritt zur Seite und machte eine einladende Geste. »Kommen Sie doch erst mal rein. Und dann müssen wir Sie aus dem Schlamm da rausholen.«
Sie folgte ihm, zog die Tür hinter sich zu und unterdrückte das starke Bedürfnis, die Kette vorzuhängen. Sie war hier in Sicherheit. Kein Grund zur Panik. Er führte sie in eine geräumige Küche mit schweren Eichenmöbeln.
»Wollen Sie einen Kaffee?«
Er wartete die Antwort nicht ab, sondern griff nach der Thermoskanne, füllte einen Becher voll und stellte ihn mit einem Teelöffel auf den Küchentisch. Sie setzte sich dazu. Vor ihr standen Milch und Zucker.
»Meine Frau ist gerade in London«, erzählte er unaufgefordert, als würde er sie als Gesprächspartner vermissen und darum den erstbesten Ersatz dankend annehmen. »Sie ist mit unserer Tochter heute Morgen losgeflogen, von Tirstrup. Mit Ryanair. Das ist, ehrlich gesagt, billiger als ein Wochenende in Kopenhagen, hat sie gesagt.«
Jedes »ehrlich gesagt« wurde von einem Kopfschütteln begleitet. Sie nahm einen Schluck Kaffee, der eine angenehme Wärme im Körper verbreitete und ihre Angst dämpfte.
Sie holte das Foto von Peter Boutrup aus der Tasche und schob es ihm über den Tisch zu.
»Ich bin auf der Suche nach ihm hier. Er hat mal in dem Fischerhäuschen gewohnt.«
Der Mann betrachtete das Foto und nickte.
»Peter. Aber das ist schon ein paar Jahre her. Wir hatten gerade angefangen zu bauen, und er hat uns immer wieder bei Kleinigkeiten geholfen. Das war ehrlich gesagt eine schlimme Geschichte.«
»Was ist denn passiert?«
Der Mann sah aus dem Küchenfenster auf die leere Auffahrt.
»Keiner weiß genau, was wirklich passiert ist. Wir haben nicht so viel mitbekommen, aber es gab ja einen Toten. Der wurde erschossen, und Peter kam ins Gefängnis. Also so …«
»Und was ist aus dem Haus geworden?«
»Ich glaube, er hat es vermietet. Vielleicht hat er mittlerweile auch verkauft.«
Der Mann nahm einen großen Schluck. Sie konnte in seinen Augen sehen, dass in ihm Vorbehalt und Erzählfreude gegeneinander kämpften.
»Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass er wieder hier zurückkommen wird. Die Erinnerungen, Sie wissen schon …«
»Ich war vorhin im Haus und wurde von einem Mann mit dem Gewehr bedroht.«
Das klang so dämlich, und sie begriff nicht, warum sie ihm das erzählte. Wozu sollte das gut sein? Und trotzdem hatte sie nach wenigen Minuten fast die ganze Geschichte ausgebreitet. Von ihrer Suche in den Baumärkten der Umgebung, der Begegnung mit Martin und seiner Frau und von den Ereignissen im Fischerhaus.
»Er ist mein Sohn. Aber ich kenne ihn nicht.«
Der Mann nickte, und es sah aus, als würde er es verstehen.
»Ich konnte ihn immer gut
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