Rachmann, Tom
-, oder soll's >Zeus
Sowieso< sein?«
Sie öffnet ihr pummeliges
Fäustchen in seiner trockenen, kühlen Hand, und er lässt es los. Eine Weile
latscht sie etwas abseits und fällt dabei über ihre Füße, ganz in Gedanken, für
sich. Dann huscht sie wieder zu ihm, verhakt ihre Finger mit seinen und sieht
mit missmutig geblähten Nüstern zu ihm hoch.
»Was denn?«
»Frosch.«
»Verboten«, sagt er. »Frosch
ist ein Name für Jungs.«
Sie zuckt mit den Schultern,
eine merkwürdig erwachsene Reaktion für ein so kleines Mädchen.
Sie gehen in einen der
überquellenden Antiquitätenläden auf der Via dei Coronari. Die Mitarbeiter
beäugen sie streng. Arthur und Pickle kommen oft vorbei, kaufen aber nie etwas,
abgesehen von dem einen Mal, als Pickle eine Kaminuhr anrempelte und Arthur sie
bezahlen musste.
Sie zeigt auf ein Telefon aus
den zwanziger Jahren.
»Man hält das Teil da ans
Ohr«, erklärt er, »und spricht in das andere.«
»Aber wie ruft man denn damit
an?«
Arthur steckt einen Finger in
die Wählscheibe und dreht sie geräuschvoll. »Hast du wirklich noch nie so ein
Telefon gesehen? Mein Gott, als ich klein war, gab es nichts anderes. Stell
dir mal vor, wie man sich darum zanken musste! Harte Zeiten, meine Liebe, harte
Zeiten.«
Sie kräuselt die Lippen und
macht einen Schlenker, um eine Marc-Aurel-Büste unter die Lupe zu nehmen.
Zu Hause schmiert Arthur ihr
ein Nutella-Brot. Das isst sie jeden Nachmittag am Küchentisch, mit baumelnden
Beinen und sich ausbreitenden Schokoladenklecksen unter der Nase.
Er bricht die Brotkruste ab
und stopft sie sich in den Mund. »Papa-Tribut«, erklärt er kauend. Sie hat
nichts dagegen.
Als Visantha draußen vorfahrt,
schlingt Pickle hastig den letzten Bissen hinunter, und Arthur wäscht rasch den
verschmierten Teller ab - es ist, als wäre ein Lehrer im Anmarsch.
»Wie war die Arbeit?«, fragt
er.
»Ganz gut. Und was habt ihr
zwei vor?«, antwortet seine Frau.
»Nichts Besonderes.«
Pickle trottet ins
Fernsehzimmer, Arthur folgt ihr zerstreut. Sie plaudern und lachen über
irgendeine Sendung.
Visantha gesellt sich dazu.
»Was guckt ihr?«
»Ach, irgendwelchen Schrott«,
sagt Arthur.
Pickle drückt ihm die
Fernbedienung in die Hand und geht in ihr Zimmer. Er sieht den Flur entlang
hinter ihr her, dann dreht er sich zu Visantha. »Weißt du, was sie mir heute
erzählt hat? Sie hat überhaupt keine Erinnerung mehr ans 20. Jahrhundert. Ist
das nicht erschreckend?«
»Nicht besonders. Was gibt's
zum Abendessen?«
»Pickle«, ruft er durch den
Flur, »hast du eine Idee fürs Abendessen?«
Die Sekretärinnen haben für
Arthur eine Bahnfahrt von Rom nach Genf gebucht, zehn Stunden Zug mit zweimal
Umsteigen in Mailand und Brig. Das ist vermutlich billiger als ein Linienflug,
aber für ihn eine kolossale Qual. Am frühen Morgen steigt er in Stazione
Termini in den Zug, kauft sich Gebäck im Bistrowagen und macht sich,
eingeklemmt zwischen lauter Zweite-Klasse-Pöbel, an den ersten Band von Gerda
Erzbergers Memoiren mit dem bescheidenen Titel >In the Beginning<. Dem
Umschlagfoto nach zu urteilen, ist - oder war - die Erzberger mit Anfang
dreißig eine hübsche, eher hagere Frau mit schulterlangen, dunklen Haaren und
ironisch geschürzten Lippen. Das Foto ist von 1965, demselben Jahr, als das
Buch erschien. Sie muss jetzt also über siebzig sein.
Als der Zug am frühen Abend in
Genf einfährt, nimmt Arthur die Nase aus dem Buch und starrt die Rückseite des
Sitzes vor sich an. Nach dem, was im Internet stand, war er auf eine dröge, politisch
überholte Autobiografie gefasst gewesen. Aus Gerda Erzbergers Prosa dagegen
sprechen Mut und Menschlichkeit. Er sieht ihr Foto noch einmal genau an und
hat das Gefühl, eklatant unvorbereitet zu sein.
Er bringt den Zoll hinter
sich, wechselt Schweizer Franken und findet ein Taxi, das ihn zu ihrer Wohnung
kurz hinter der französischen Grenze bringt. Der Fahrer setzt ihn auf einer
nassen Landstraße ab, dann entschwinden die roten Rücklichter den Hügel hinab.
Arthur ist verschwitzt, verunsichert, verspätet. Er hasst Zuspätkommen, aber
er kommt immer zu spät. Er reibt die Hände aneinander und haucht eine
Atemwolke hinein. Das ist das Haus: Die Nummer stimmt, die Pinien auch, alles
so, wie sie es beschrieben hatte. Nach einiger Sucherei findet er ein Türchen
in dem heckenüberwucherten Zaun und tritt ein. Das Haus ist aus solidem
Fachwerk, von der Dachrinne hängen Eiszapfen wie Zaubererhüte. Er knackt
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