Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rachmann, Tom

Rachmann, Tom

Titel: Rachmann, Tom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Unperfekten
Vom Netzwerk:
es fertig hat, will man nie wieder was davon hören.
    Aber man kann auch nicht
richtig aufhören, über sein eigenes Leben zu reden - vor allem, wenn man ich
ist!« Sie beugt sich besorgt vor. »Mal ganz nebenbei, Mr. Gopal, ich mag ja
Nachrufe. Und es sollte nicht so klingen, als ob ich Ihre Arbeit herabsetzen
wollte. Das haben Sie doch nicht falsch verstanden?«
    »Nein, nein.«
    »Gut. Dann fühle ich mich
besser. Und jetzt sagen Sie mal, wann ich das Stück zu lesen bekomme?«
    »Gar nicht, fürchte ich. Das
ist gegen die Regeln. Sonst würde jeder dies oder das geändert haben wollen.
Tut mir leid.«
    »Schade. Wäre doch sehr
amüsant zu erfahren, wie an mich erinnert wird. Ausgerechnet der Artikel, den
ich am allerliebsten lesen würde, ist der, den ich nie zu lesen kriegen werde!
Naja, gut.« Sie wiegt die Zigarettenschachtel in der Hand. »Die Leute kriegen
doch bestimmt immer einen furchtbaren Schreck, wenn Sie mit Ihrem Notizblock
anrücken. Nein? Wie der Bestatter, der schon mal die Witwe taxiert.«
    »Ich hoffe, so schlimm bin ich
nicht. Obwohl, die meisten Leute merken ehrlich gesagt nicht, was ich
recherchiere. Trotzdem bin ich erleichtert, dass ich heute Abend nichts
vorgaukeln muss«, sagt er. »Macht mir das Leben wirklich sehr viel leichter.«
    »Aber macht es auch mir den
Tod sehr viel leichter?«
    Er versucht zu lachen.
    »Ach, hören Sie nicht auf
mich«, sagt sie. »Sind nur Wortspielereien. Ich habe jedenfalls keine Angst
davor. Nicht die geringste. Man kann nicht etwas scheuen, was man nicht erlebt
hat. Der einzige Tod, den wir miterleben, ist der von anderen Leuten. Schlimmer
kann's nicht kommen. Und das ist mit Sicherheit schlimm genug. Ich erinnere
mich noch genau an das erste Mal, als ein Freund von mir gestorben ist. Das
war, ja, wann, 1947? Walter - kommt auch im Buch vor, das ist der, der immer
mit einer Weste ins Bett gegangen ist, wenn Sie sich erinnern. Er wurde krank,
und ich ließ ihn in Wien sitzen, und er starb. Ich hatte einen Horror vor
Krankheiten. Ich war wie gelähmt vor Angst vor - vor was eigentlich? Nicht vor
Krankwerden und Sterben. Mir war auch damals schon irgendwie instinktiv klar,
was der Tod im schlimmsten Fall ist: etwas, das anderen Leuten zustößt. Und das
ist schwer zu ertragen. Genau damit wollte ich mich damals bei Walter nicht
auseinandersetzen, genau darin war ich nie gut.
    Aber ich will eigentlich
darauf hinaus, dass der Tod missverstanden wird. Der Verlust des eigenen Lebens
ist nicht der schlimmste Verlust. Es ist überhaupt kein Verlust. Für andere
vielleicht, aber nicht für einen selbst. Aus der eigenen Perspektive betrachtet
kommt einfach nur die Erfahrung zum Stillstand. Aus der eigenen Perspektive betrachtet
gibt es keinen Verlust. Verstehen Sie? Aber vielleicht ist das auch nur
Wortspielerei, der Tod wird davon ja nicht weniger erschreckend, nicht wahr?«
Sie nimmt ein paar Schlucke Tee. »Wovor ich wirklich Angst habe, ist die Zeit.
Die ist der Teufel: Die peitscht uns vorwärts, wenn wir uns viel lieber räkeln
würden, und dabei rennt uns die Gegenwart davon, wird ungreifbar, und plötzlich
ist alles Vergangenheit, eine Vergangenheit, die nicht stillstehen will, die in
all die unauthentischen Geschichten hinübergleitet. Meine Vergangenheit - sie
fühlt sich kein bisschen wirklich an. Der Mensch, der sie bewohnt hat, ist
nicht ich. Es ist, als wäre mein gegenwärtiges Ich in ständiger Auflösung.
Heraklit soll gesagt haben, dass kein Mensch zweimal in denselben Fluss steige,
denn es sei nicht derselbe Fluss und er sei nicht derselbe Mensch. Und das
stimmt genau. Wir geben uns gern der Illusion von Kontinuität hin und nennen
sie Erinnerung. Was auch vielleicht erklärt, warum unsere schlimmste Angst nicht
die vor dem Tod ist, sondern die vor dem Verlust der Erinnerung.« Sie sieht
Arthur forschend an. »Können Sie mir folgen? Klingt das vernünftig? Verrückt?«
    »Ich habe darüber noch nie so
nachgedacht«, sagt er. »Wahrscheinlich ist da was dran.«
    Sie lehnt sich zurück. »Es ist
eine ganz eigenartige Tatsache!« Sie beugt sich wieder vor. »Finden Sie das
nicht auch frappierend? Die Persönlichkeit stirbt Schritt für Schritt, aber es
fühlt sich an wie Kontinuität. Und die ganze Zeit haben wir panische Angst vor
dem Tod, den wir aber gar nicht mehr erfahren. Und genau diese unlogische
Angst wird umgekehrt unser Motiv zum Leben. Wir spießen uns gegenseitig auf und
verstümmeln uns selbst für Sieg und Ruhm, als ob sich mit beidem

Weitere Kostenlose Bücher