Rachmann, Tom
unsere Sterblichkeit
irgendwie austricksen ließe und wir länger am Leben bleiben könnten. Und wenn
der Tod dann vor uns steht, martern wir uns mit dem Gedanken, wie wenig wir
erreicht haben. Mein Leben zum Beispiel ist nie richtig gewürdigt worden. An
mich wird sich kaum jemand erinnern. Außer in Ihrer exzentrischen Zeitung
natürlich. Ich will gar nicht wissen, wie Sie auf mich gekommen sind - Gott sei
Dank ist es überhaupt jemand! Das rettet meine Illusionen.«
»Das klingt viel zu
bescheiden.«
»Hat nichts zu tun mit
Bescheidenheit«, wehrt sie ab. »Wer liest denn meine Bücher noch? Wer hat
heutzutage je von mir gehört?«
»Na, ich zum Beispiel«, lügt
er.
»Ach je! Hören Sie mal zu«,
fährt sie fort, »ich behaupte zwar, dass Ehrgeiz absurd ist, aber er hat mich
noch immer im Griff. Das ist so, als ob man sein Leben lang Sklave ist, und
dann erfährt man eines Tages, es gab nie einen Herrn, und trotzdem geht man
weiter brav zur Arbeit. Können Sie sich eine größere Macht im ganzen Universum
vorstellen? In meinem jedenfalls nicht. Die hat mich von frühester Kindheit an
beherrscht. Ich wollte immer unbedingt etwas erreichen, Einfluss nehmen - das
vor allem. Leute aufscheuchen. Das war meine Religion: der Glaube daran, dass
ich Aufmerksamkeit verdiene, dass, wer nicht auf mich hört, sich irrt, und wer mir
widerspricht, ein Idiot ist. Aber ich kann erreichen, was ich will, die Welt
dreht sich einfach weiter, dreist, gleichgültig - ich weiß das alles, aber es
will mir nicht in den Kopf. Wahrscheinlich war ich bloß deshalb bereit, mit
Ihnen zu reden. Ich mache ja bis heute jeden Blödsinn mit, bloß damit ihr alle
den Mund haltet und mir zuhört, was ihr von Anfang an hättet tun sollen!« Sie
hustet und greift nach der nächsten Zigarette. »Aber eins steht fest: Nichts in
der ganzen Kulturgeschichte war so produktiv wie aberwitziger Ehrgeiz. So
krankhaft er sein mag, nichts war kreativer. Kathedralen, Sonaten, Enzyklopädien:
Dahinter steckt weder Liebe zu Gott noch Liebe zum Leben. Sondern die Liebe des
Menschen zur Anbetung durch andere Menschen.«
Ohne weitere Erklärung geht
sie aus dem Zimmer, und ihre lauten Hustenanfälle sind so lange zu hören, bis
sich die Tür hinter ihr geschlossen hat. Als sie zurückkommt, sagt sie: »Sehen
Sie mich an. Keine Kinder, nie verheiratet. Und ausgerechnet in diesem Stadium
meines Lebens, Mr. Gopal, komme ich zu einer hochkomischen Erkenntnis: Das
Einzige, was wir zu vererben haben, ist genetisches Material. Ich habe Leute,
die Kinder in die Welt setzen, immer verachtet. Für mich war das Flucht vor der
Mittelmäßigkeit, der Versuch, das eigene verpfuschte Leben durch ein neues zu
ersetzen. Heute hätte ich lieber selber auch ein Leben geboren. Ich habe nur
eine Nichte, ein ganz umtriebiges Mädchen (ich sollte nicht Mädchen sagen - sie
hat die ersten grauen Haare), aber sie sieht mich immer an, als ob ich von
einem anderen Stern wäre. Sie kommt einmal in der Woche mit hektoliterweise
Suppe, Suppe, Suppe und einer Entourage von Ärzten und Pflegern und Gatten und
Kindern, es könnte ja das letzte Mal sein. Sie kennen doch diesen blöden Spruch:
>Wir sind allein geboren, und wir sterben allein< - aber das ist
Quatsch. Wir sind bei der Geburt von Menschen umgeben und beim Sterben auch.
Dazwischen, da sind wir allein.«
Gerda Erzberger ist jetzt so
weit abgeschweift, dass Arthur nicht genau weiß, wie er sie wieder zurückholen
soll, ohne grob zu wirken. Ihrer emsigen Raucherei nach zu urteilen, scheint
auch sie zu ahnen, dass er nicht wegen solcher Themen da ist.
»Darf ich mal Ihr Bad
benutzen?« Er schließt die Tür, lockert die Schultern, sieht auf die Uhr. Es
ist viel später geworden, als er wollte. Und er braucht dringend noch ein paar
zitierfähige Sätze. Was sie bisher gesagt hat, taugt alles nicht. Es fühlt sich
an wie ein unüberwindbarer Berg an Arbeit. Eigentlich will er nur eine Karriere machen, die, bei der
es Geld dafür gibt, Nutella-Brote zu schmieren und beim Monopoly mit Pickle zu
schummeln.
Er guckt sein stummgeschaltetes
Handy durch. Sechsundzwanzig entgangene Anrufe. Sechsundzwanzig? Das kann
nicht stimmen. Sechsundzwanzig Anrufe kriegt er normalerweise in einer ganzen
Woche nicht. Er kontrolliert noch einmal - doch, sechsundzwanzig Anrufe in der
letzten Stunde. Die ersten drei kommen von zu Hause, die übrigen von Visanthas
Handy.
Er geht kurz ins Wohnzimmer. »Sorry,
ich muss kurz mal telefonieren. Entschuldigen Sie.«
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