Rachmann, Tom
Arthur mit endlosen Aufträgen
überschüttet, er darf jetzt auch noch die täglichen Rubriken Heute in der Geschichte, Hirnakrobatik, Rätsel-Brezel,
Einmal gut gelacht am Tag und Welt-Wetter bauen,
zusätzlich zu seinen regulären Nekrologenpflichten.
Arthur findet die E-Mail, auf
die Clint angespielt hatte. Sie kommt von Kathleen Solson. Die Chefredakteurin
will im Fall Gerda Erzberger auf alles vorbereitet sein, was heißt: Nachruf,
noch zu Lebzeiten verfasst, auf Halde zu halten. Wer um Himmels willen ist das?
Er geht ins Internet. Gerda Erzberger war offenbar eine österreichische
Intellektuelle, von Feministinnen erst gepriesen, dann verfemt, schließlich
vergessen. Was interessiert das denn die Zeitung, wenn die im Sterben liegt?
Nun, Kathleen hat zu Collegezeiten zufällig Erzbergers Memoiren gelesen. Und
Nachrichtenwert ist, wie Arthur weiß, oft bloß eine höfliche Umschreibung für
die Marotten von Chefredakteuren.
Und schon ist Kathleen da und
will über den Nachruf reden.
»Ich bin gerade dran«, sagt
Arthur vorsichtshalber. »An Gerda?«
»Gerda ... Sie kennen sie
persönlich?« Wenn jetzt ein Ja kommt, wird es noch tückischer.
»Nicht gut. Hab sie ein paarmal
bei Veranstaltungen getroffen.«
»Also keine Freundin«,
probiert er hoffnungsvoll. »Für wie dringlich halten Sie es denn?« Was nichts
anderes heißt als, wann beabsichtigt sie, das Zeitliche zu segnen.
»Weiß nicht«, antwortet
Kathleen. »Sie geht nicht zum Arzt.«
»Ist das gut oder schlecht?«
»Nun ja, bei Krebs gilt das
als weniger aussichtsreich. Hören Sie, ich möchte, dass wir das mal so machen,
wie es sich gehört. Ich gebe Ihnen Zeit, damit Sie sich ein Interview holen
können, fahren Sie zu ihr und so weiter, anstatt irgendwelche Zeitungsausschnitte
zusammenzubasteln.«
»Wohin denn rauf?«
»Sie wohnt außerhalb von Genf.
Lassen Sie sich die Reise von den Sekretärinnen organisieren.«
Reisen heißt Anstrengung und
eine Nacht von zu Hause weg. Ode. Und nichts ist schlimmer als Interviews für
Nachrufe. Man darf nie durchblicken lassen, wofür man da recherchiert, denn die
Interviewten neigen dann zu Nervenkrisen. Arthur erzählt immer, er schreibe an
einem »Porträt«. Er lockt den moribunden Interviewten aus der Reserve, lässt
sich alle notwendigen Fakten bestätigen und sitzt den Rest der Zeit ab und tut
so, als ob er mitschriebe, schmort in Schuldgefühlen, lässt hin und wieder ein
»Außergewöhnlich!« oder »Sie sind wirklich ...?« fallen. Er weiß ja, wie wenig
davon gedruckt wird - Nachrufe sind Jahrzehnte eines Menschenlebens eingedampft
auf ein paar Absätze und auf Seite neun unten zur endgültigen Ruhe gebettet,
zwischen Rätsel-Brezel und Welt-Wetter.
Mit solch düsteren Gedanken
schleicht sich Arthur aus der Redaktion, um seine Tochter von der Schule abzuholen.
Pickle, acht Jahre alt, kommt aus dem Tor, die Schulmappe um den Hals gehängt,
die Arme an den Seiten schlenkernd, den runden Bauch vorgeschoben, den Blick
hinter der Brille auf nichts Bestimmtes fokussiert, mit losen Schnürsenkeln,
die bei jedem Schritt mitschlackern.
»Antiquitäten?«, fragt Arthur,
und Pickle schiebt ihre Hand in seine und drückt sie zur Bestätigung. So Hand
in Hand zockeln sie zur Via dei Coronari. Er mustert sie von oben, die
Wuscheligen schwarzen Haare, ihre kleinen Ohren, die dicken Brillengläser,
durch die sich die Pflastersteine verbiegen und aufblähen. Sie plappert leise
vor sich hin und schnaubt vor Vergnügen. Sie ist wunderbar eigenbrötlerisch,
und das wird sich hoffentlich nie ändern. Er wäre geradezu bekümmert, wenn sie
cool wäre - als wäre sie nicht aus seinem Fleisch und Blut.
»Dein Aussehen«, sagt er,
»erinnert an das eines Schimpansen.«
Sie summt weiter leise vor
sich hin und geht nicht darauf ein. Eine Minute später sagt sie: »Und du
erinnerst mich an einen Orang-Utan.«
»Da fällt mir kein
Gegenargument ein. Übrigens«, setzt er nach, »aber mir ist was anderes
eingefallen: Tina Pachootnik.«
»Sag noch mal.«
»Pachootnik. Tina.«
Sie schüttelt den Kopf. »Kann
man nicht aussprechen.«
»Gefällt dir denn wenigstens Tina?«
»Das könnte ich in Erwägung
ziehen.«
Pickle sucht schon lange nach
einem Pseudonym, nicht für einen bestimmten Zweck, sondern weil es ihre
Fantasie beflügelt. »Wie wär's mit Zeus.«
»Leider vergeben. Andererseits
ist der schon so lange hinüber, dass es kaum Verwirrung stiften dürfte. Meinst
du einfach nur so - >Zeus< und sonst nichts
Weitere Kostenlose Bücher