Rachsucht
Knochen gedrillt. Im Licht der Nachttischlampe wirkte sein Gesicht blass und schmal. Er hatte bestimmt zehn Kilo abgenommen. Sein Bettnachbar war vom Hals abwärts gelähmt und trug einen Halofixateur, der zur Stabilisierung in den Schädel geschraubt war.
»Ich dachte, du hast vielleicht Hunger«, begrüßte ich ihn.
Es kostete ihn offensichtlich große Mühe, sich aufzusetzen. Und er wusste, dass mir das nicht entgangen war.
»Ich kann noch einen Trick«, sagte er. »Nämlich mich vom Bett auf den Fußboden hangeln.«
Beim nächsten Besuch stand ein Mann mit dem Rücken zu mir an Jesses Bett. Er trug ein T-Shirt der Schwimmmannschaft der University of California Santa Barbara und hatte dunkles Haar wie Jesse, seine Größe und seinen athletischen Körperbau.
Meine Sehnsucht war stärker als mein Verstand. »Wow!«
Als er sich umdrehte, blickte ich in Adams Gesicht.
Verlegen zögerte ich.
»Ich bin hier«, meldete sich Jesse, der neben dem Bett im Rollstuhl saß.
Der Gedanke an diesen Moment war mir noch heute zutiefst peinlich. Aber es war auch der Augenblick gewesen, in dem Jesse die Führung übernommen und uns gezeigt hatte, wie er behandelt werden wollte.
»Hat einer von euch eine Zeitung dabei?«
Adam und ich wechselten einen Blick.
»Nein, warum?«, fragte ich.
»Weil ich euch gern damit eins auf die Nase geben würde, bis ihr aufhört, so betreten aus der Wäsche zu schauen.«
Jetzt lehnte er seinen Kopf an meine Schulter. Ich wollte seine Dankbarkeit nicht. Für mich war es keine besondere Leistung, dass ich bei ihm geblieben war.
Als er aufsah, küsste ich ihn. Die Wellen schlugen auf den Sand hinter uns.
»Ich liebe dich«, sagte ich.
»Das sagst du hoffentlich nicht nur, weil du schon das Brautkleid gekauft hast?«
»Nein. Das sage ich, weil ich fünfhundert Kanapees bestellt habe. Jetzt kann ich nicht mehr raus.« Der Wind frischte auf. Ich spürte eine Gänsehaut, ein unheimliches Prickeln. »Wir kommen wohl beide nicht mehr raus.«
»Das kannst du laut sagen. Ich habe keine Ahnung, wie ich das mit Adam regeln soll.«
Er atmete deutlich vernehmbar aus. »Ev, ich muss dir was sagen. Die Leute, die mich bedrohen, haben heute Kontakt mit mir aufgenommen.«
»Verdammter Mist! Was wollen sie?«
»Das weiß ich noch nicht. Bisher spielen sie nur mit mir und haben sich nicht näher geäußert.«
Ich versuchte, im Mondlicht seinen Gesichtsausdruck zu erkennen. »Jesse?«
»Ich weiß es nicht, Ev. Aber ich glaube, es wird noch viel schlimmer werden, bevor es besser werden kann.«
Die Luft auf meinen Armen fühlte sich kalt an. »Gehen wir rein.«
Drinnen schloss ich die Türen ab und ließ die Jalousien herunter, bevor wir uns fürs Bett fertig machten. Während sich Jesse die Zähne putzte, fing ich an, mich auszuziehen. Ich fühlte mich müde und verunsichert, aber als ich mich aus meinen Jeans schälte, beschloss ich, wenigstens für die
nächsten acht Stunden allen Kummer zu vergessen. Ich trat zur Stereoanlage und legte ein Aretha-Franklin-Album auf. Dann dimmte ich die Beleuchtung im Schlafzimmer und streifte alles ab bis auf BH und Slip. Als Jesse aus dem Bad kam, hatte ich die Decke zurückgeschlagen und kniete wie Rita Hayworth auf dem Bett.
Jesse blickte mich wehmütig an. Ihm war klar, dass dies eine Rettungsaktion war, um uns beide aus der Gefahrenzone zu befördern.
»Ich hab kein Viagra genommen«, sagte er.
»Das macht nichts. Komm her.«
Er legte sich zu mir aufs Bett. Ich knöpfte sein Hemd auf und zog es ihm aus.
»Weißt du, bei den Models in den Katalogen passen BH und Slip immer zusammen«, meinte er nachdenklich.
»Du schaust dir Wäschekataloge an?«
»Dafür lese ich nur den Politikteil. Gibt es einen Grund dafür, dass du deine Unterhose mit der Innenseite nach außen trägst?«
Ich drückte ihn aufs Bett und setzte mich auf ihn. »Ja. Weil ich eine Gesetzlose bin.«
»Wer denn?« Er grinste. »Soll das ein Rollenspiel werden?«
»Gute Idee. Wir könnten der Präsident und die First Lady sein, wo du doch politisch so interessiert bist.« Mittlerweile war ich beim obersten Knopf seiner Jeans angelangt. »Oder lieber Che Guevara und das Bauernmädchen?«
»Tolle Idee. Aber diesmal will ich Che sein.«
Lachend beugte ich mich über ihn und drückte die Lippen auf seinen Mund.
Es war Mitternacht, als das Telefon klingelte, und Jesse hatte gerade wieder einen Albtraum. Ich tastete nach dem Lichtschalter und musste über ihn greifen, um ans Telefon zu
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