Radegunde von Thueringen
einen Strick durch alle vier Fesseln und brachte sie nach draußen. Dort stieg er auf sein Pferd und band das Seilende am Sattel fest. Sein behelmter Kamerad ritt hinter ihnen.
Ungeschickt stolperten sie los. Zum Glück wagte der Rothaarige nicht, schneller als Schritttempo zu reiten, trotzdem traten sie sich in die Fersen oder stießen sich beim Laufen an den Schultern. Radegunde quälte der Anblick von Bertafrids kleinen Händen, die vom Strick nach oben gezerrt wurden, sobald das Pferd einen Schritt tat. Der Junge stapfte jedoch tapfer zwischen ihnen her. Seit Giso bei ihnen war, weinte er nicht mehr. Sie befühlte den Knoten um ihre Hände.
„Vergiss es“, murmelte Giso, „das ist aussichtslos. Außerdem kämen wir hier sowieso nicht weit.“
Er hatte natürlich Recht. Das Gelände war bevölkert von fremden Soldaten. Nachdem sie keine Lebenden mehr fanden, plünderten sie die Hütten und jagten Schweine und Ziegen aus purer Mordlust über den Hof. Manch begehrlicher Blick streifte Radegunde und auch Besa. Der Rothaarige erklärte allen, die zu nahe kamen, dass es sich hier um Chlothars persönliches Eigentum handele, woraufhin selbst die Aufdringlichsten sofort ehrfürchtig zurückwichen.
Auf dem Weg zum Haupttor stolperten sie stumm über Leichen und Körperteile, stapften durch blutigen Morast, der schmatzende Geräusche unter den Füßen verursachte. Besa rutschte aus und landete stöhnend in einer der stinkenden Pfützen.
Ein unverständliches Gewirr von fremd klingenden Worten hing in der Luft, kein vertrauter Laut drang an ihre Ohren. Am Tor mussten sie einer Gruppe Krieger auf kleinen, gedrungenen Pferden ausweichen, die lärmend und ohne Rücksicht auf Fußvolk im gestreckten Galopp in die Burg einfielen. Sie konnten gerade noch beiseitespringen, da waren sie auch schon vorbei. Erschrocken blickten sie ihnen nach. Dünne geflochtene Zöpfe wehten den grobschlächtigen Männern vor den Ohren, ihre Gesichter waren wild bemalt oder tätowiert. Lange einschneidige Schwerter tanzten in ihren Händen.
Das Pferd des Rothaarigen scheute und er fluchte laut.
„Sax!“, rief sein Kumpan von hinten und lachte abfällig.
„Sachsen!“, murmelte Giso. „Bei Wodan, wir waren auch ohne sie schon in der Minderzahl!“
„Die Langobarden sind nicht gekommen!“, flüsterte Radegunde und schluckte krampfhaft den Kloß herunter, der in ihrer Kehle saß wie ein Distelkopf.
Hatten sie innerhalb der Hölzernen Burg noch geglaubt, das ganze Ausmaß der Niederlage zu begreifen, wurden sie jetzt, außerhalb der Palisaden, eines Besseren belehrt. Am Fuße des Hügels lag, was von Herminafrids Heer geblieben war. Bis zur Unstrut hinunter zog sich ein endloser Teppich aus Leichen.
„Wodan, steh uns bei!“, stammelte Besa und wollte stehen bleiben, doch der Strick zerrte sie unerbittlich weiter.
„Sie haben ganze Arbeit geleistet!“, entfuhr es Giso.
Radegunde nickte. Tränen verschleierten ihren Blick. „Und die Sachsen haben ihnen dabei geholfen.“
Etliche fränkische Krieger streiften über das Schlachtfeld und durchsuchten die Toten. Sie nahmen ihnen Waffen ab und was sonst noch brauchbar erschien. Hier und da bekam ein Verletzter von ihnen den Gnadenstoß, manchmal auch nur einen Fußtritt.
Fränkische Frauen aus dem Gefolge des Heeres zerrten ihre verletzten Landsleute an den Rand des Schlachtfeldes und versorgten sie dort notdürftig.
Der Rothaarige schlug den Weg zum Fluss ein. Je näher sie dem Ufer kamen, umso dichter lagen die gefallenen Kämpfer. Offenbar hatte der Rest von Herminafrids Kriegern mit dem Rücken zur Unstrut gekämpft und war hier von zwei feindlichen Heeren in die Zange genommen worden. Der Fluss selbst lag in seiner ganzen Breite voller Leichen, flussaufwärts staute sich bereits das Wasser, flussabwärts schäumte es purpurrot.
„Sind wir denn die letzten Thüringer?“, jammerte Giso. „Ich sehe nirgends Überlebende.“
Die beiden Franken steuerten mit ihren Gefangenen direkt auf die Brücke aus Leichen zu. Radegunde schauderte. Wenn sie wenigstens Bertafrid auf den Arm nehmen und ihm diesen Fußmarsch ersparen könnte! Kurz darauf wankten sie mit Abscheu und Trauer im Herzen über den weichen Untergrund, der mit Hunderten von toten Körpern über das Wasser trug. Zum Schrei geöffnete Münder, in Todesangst aufgerissene Augen mit gebrochenem Blick, verstümmelte Glieder, aufgeschlitzte Bäuche. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Still weinte sie vor sich
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