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Radikal führen

Radikal führen

Titel: Radikal führen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard K. Sprenger
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ein Holzweg waren. Und dass Führung im täglichen Operieren an dem Bemühen um Wiedervereinigung nicht vorbeikommt.
    Das ist an einer spontan-menschlichen Reaktion gut ablesbar: Wenn das Tabuisierte sich wieder ins Spiel bringt, dann lachen wir. Lachen ist die menschliche Reaktion auf die blitzartige Erkenntnis, dass das offiziell Ausgeblendete sich doch wieder zeigt. Deshalb wirken viele Werteprogramme so lächerlich. Oder lesen sich so langweilig, dass es (mit Luhmann) schon wieder interessant ist, warum sie so langweilig sind. Weil ihnen die Spannung genommen ist, das Widersprüchliche, das den Menschen herausfordert und ihn immer wieder neu zur Entscheidung ruft.
    Unerfreulicher noch: Die Entscheidung »baut den Gegner auf«. Oft genug wird durch die Entscheidung gerade nicht diegewählte Alternative gestärkt, sondern die nicht gewählte. Wie eine Untote erhebt sie das Haupt, wird bei allen möglichen Gelegenheiten als konjunktivische Spielerei des »hätte«, »wäre« und »würde« wiederbelebt. Denn Pole stärken einander. Sie sind viel vitaler, durchdringen eine Organisation viel tiefer, als es eine einseitige Kraft je könnte. Sie werden jedoch schwächer, wenn man ihren Gegenpol abschafft. So wie der Westen schwächer wurde, seit der Ost-West-Gegensatz verschwand, hatten sich doch bis 1989 Kapitalismus und Sozialismus wechselseitig definiert und gebändigt. Seit dem Ende des Sozialismus kann man der Auffassung sein, dass auch der Kapitalismus durch den Wegfall der Alternativspannung massiv bedroht ist und zumindest in den Industriestaaten nicht mehr den Massenwohlstand generiert, der viele Jahrzehnte für ihn sprach. Was Georgi Arbatow, russischer Politologe und Berater Gorbatschows, hellsichtig prophezeite: »Wir werden euch etwas Furchtbares antun: Wir werden euch den Feind nehmen.« Was wird aber aus freien Gesellschaften, wenn sie keinen Gegner mehr haben?
    Indem sie Doppeldeutiges zu »Werten« simplifizieren, halten viele Unternehmen an der Eindeutigkeitsfiktion fest. Und versuchen dann, das Abgewählte im operativen Alltag verschwinden zu lassen. Aber noch nie konnten zentrifugale Kräfte durch Werte gebändigt werden. Und man zahlt für diese kurzfristige Selbstberuhigung einen hohen Preis: Werte sind Zynismus-Generatoren. Mit der Werte-Bibel in der Hand brüllt man dann »Unglaubwürdig!«, sollte das offiziell Ausgeschlossene sichtbar werden. Und es sind oft moralisch hochstehende Menschen, die zynisch werden. Weil sie sehen, dass andere an den Ansprüchen scheitern, sie selbst scheitern – weil sie scheitern müssen. Es ist unmöglich, nach diesen Prinzipien zu leben. In nahezu allen Unternehmen, die eine Werte-Charta veröffentlicht haben, hat sich der Zynismuspegel sprunghaft erhöht. Die Werte-Chartas postulieren Fortschritt, bringen aber Rückschritt.
    Der Übergang vom Impliziten zum Expliziten – das ist also der eigentliche Sündenfall. Das Explizitmachen von Werten löst keine Probleme, es erschafft sie. Dann gaukeln diese Werte-Leitlinien eine Eindeutigkeit vor, die der Lebenswirklichkeit in den Unternehmen nicht entspricht. Es ist eine Paradoxie der Transparenz, die wir hier besichtigen können. Prinzipienradikalität führt entweder in die Lächerlichkeit oder in den Totalitarismus. Nichts, aber auch gar nichts in dieser Welt ist »alternativlos« – das offizielle Unwort des Jahres 2010.
    Die Flucht aus der Komplexität in den scheinbaren Konsens kann also nicht gelingen. Aber warum muss man denn überhaupt Werte explizit machen? Der gesunde Menschenverstand weiß doch (oder ahnt zumindest), dass wir Werte in Reinform nicht leben können. Dass jede Buchung eine Gegenbuchung hat. Dass das Entweder-oder tödlich ist, dass ein Alles-oder-nichts und Schwarz-oder-Weiß keine lebensfähigen Konzepte sind. Und dass eine gewisse Unschärfe einfach lebenspraktisch ist.
    So sind Werte ein Beispiel für etwas, was im Unternehmen entschieden werden kann, aber nicht muss. Oder, wie hier vorgeschlagen, nicht entschieden werden sollte. Weil sich Werte letztlich einer Entscheidung entziehen. Es gibt sie nicht im Entweder-oder. Einen Wert kann man einem anderen vorziehen, ohne ihn aber deshalb loszuwerden. Daher ist Ambivalenz der beste Kompromiss. Denn es gilt Robert Musils tiefe Einsicht: »Würde auch nur ein einziges Mal mit einer der Ideen, die unser Leben bewegen, restlos Ernst gemacht, unsere Kultur wäre nicht mehr die unsere.« Also lassen Sie es besser beim Sowohl-als-auch. Lassen

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