Radikal führen
Sie es grundsätzlich unentschieden und entscheiden Sie nur bei Bedarf und situativ. Abwechselndes Vorziehen oder grundsätzliche »Gleich-Gültigkeit« sind überlebensfähiger. Denn sollte einmal eine Situation entstehen, in der das Gegenteil des Bevorzugten notwendig ist, dann könnte die entscheidende Handlungsoption nicht zur Verfügung stehen, weil man über viele Jahre auf diesem Auge blind war. Verzichten Sie besser auf explizite Werte. Lassen Sie die Dinge lieber intransparent – das ist praktischer. Vertrauen Sie stattdessen Ihren Führungskräften. Führungskräfte müssen, um überhaupt ihren Job machen zu können, sich durch »Korridore relativer Gleichgültigkeit« (H. Edward Wrapp) bewegen. Diese Korridore sollten Sie nicht zu sehr verengen. Enthaltung ist manchmal eben auch eine Haltung.
Widersprüche aushalten
Der pragmatische Umgang mit Widersprüchen muss als Teil der Kultur in der gesamten Organisation verankert werden. Denn Führung ist widersprüchlich. Sie spiegelt generelle Entwicklungen der Arbeitswelt: rasche Marktänderungen, komplexe Kooperationsmodelle, zunehmende Projektorientierung, Internationalisierung. Die Marktbedingungen werden immer unsicherer. Gleichzeitig werden von Ihnen als Führungskraft Klarheit, Glaubwürdigkeit und Orientierung gefordert. Aber wie sollen Sie Sicherheit verströmen, wenn Sie selbst nicht wissen (können), ob der Weg, der beschritten wurde, auch in einigen Monaten noch gangbar ist? Wie können Sie »authentisch« sein, wenn Sie Entscheidungen vertreten müssen, die Sie selbst so nicht getroffen hätten? Und wie können Sie glaubwürdig sein, wenn ein situatives, angemessenes Verhalten mal Offenheit, in einem anderen Fall aber Verschwiegenheit fordert? Angesichts der vielen moralischen Zielkonflikte ist ein Leben mit weißer Ethikweste unmöglich. Und Sie sollten nicht eine Klarheit vortäuschen, die wirtschaftsfeindlich ist. Ideale legen fest, Wissen bewegt.
Deshalb wird es Zeit, dass wieder Abwägung und Differenzierung die Managementetage rückerobern. Es darf zwar keine Floskel sein, aber die Haltung »it depends«, »es kommt darauf an«, ist nicht dumm. Dadurch wird die Urteilsfähigkeit gesteigert – und damit die Lebenspraxis. Jedenfalls sind die in den Leitlinien zu lesenden Festlegungen im wahrsten Sinne»einfältig«. Daraus folgt eine gute Nachricht für alle, die das Offene lieben: Die generelle Lösung gibt es nicht. Immer sind da Spielräume für verschiedene Lösungen. Die Auseinandersetzungen darüber sollten wir genießen. Denn über Streit jammert man so lange, bis man nicht mehr streiten darf. Dissens ist das Wesen jeglicher Gemeinschaft; Dissens, der nach bestimmten Regeln zu bearbeiten und zu entscheiden ist. Bloßer Integrationseifer wird uns zukunftstaugliche Antworten nicht mehr verlässlich liefern. Es wird Zeit, selber mit dem Denken zu beginnen.
Angesichts von Konflikten einen kühlen Kopf zu bewahren, bei Dilemmata die Gegenbuchung nüchtern zu kalkulieren, das gilt mitunter als herzlos oder unmoralisch. Man bevorzugt dann eine appellative Trivialmoral. Das ist der Jargon der Glaubwürdigkeit, der menschlichen Nähe, der Offenheit. Da soll man sich »eingeladen fühlen«, sich »in wechselseitigem Respekt« zu »begegnen«, was natürlich »wertschätzend« zu erfolgen habe. Kann man das leisten, wenn die Stürme des Wettbewerbs wüten? Ich denke, man kann klar kommunizieren. Dazu muss man kein Bildungsbürger sein. Aber man darf nicht banal werden. Das wird man, wenn man einen Wert für immer und unter allen Umständen und uneingeschränkt gültig erklärt. Solch ein kategorischer Ausschluss einer Seite aus prinzipiellen Erwägungen führt in den Ruin. Moralischer Heroismus ist nicht überlebensfähig.
Von der Moral zum Kunden
Unternehmen sind heute nicht mehr »aus einem Guss«, sondern ausdifferenzierte Gebilde, in denen unterschiedliche Rationalitäten nebeneinander agieren. Es ist fraglich, ob sich diese Gebilde noch aus einer unternehmerischen Zentralperspektive steuern lassen. Aber wenn es dafür eine Möglichkeit gibt, dann ist es der Kunde. Nur der Kunde kann die Perspektivendifferenz wieder bündeln. Nur er kann es schaffen, dass alle an einem Strang ziehen.
Aber genau dieser Kunde ist es, den die Wertediskussion in den Unternehmen unter der Hand zum Verlierer macht. Es wird von Workshops berichtet, auf denen stundenlang über Werte diskutiert wird, aber nicht ein Mal das Wort »Kunde« fällt. Zwar wird
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