Radikal führen
Entscheidungen. Eine Entscheidung kommuniziert dabei immer mehrerlei: 1. dass entschieden wurde, 2. was entschieden wurde, 3. wer entschieden hat und 4. wogegen entschieden wurde.
Bei Werten hat es gerade diese letzte, vielfach unbeachtete Kommunikation in sich: wogegen entschieden wurde. Denn Werte sind nur scheinbar klar und eindeutig. In Wirklichkeit gibt es sie nur im Doppelpack. Immer sind sie gegengelagert gegen einen polaren Wert, der ebenso berechtigt ist. Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr. Das gilt für Tugenden wie für Untugenden: So wie immer ein Haar in der Suppe ist, so finden sich auch Perlen bei den Säuen.
Einige Beispiele: Ist Offenheit nicht ebenso berechtigt wie Verschwiegenheit? Ist Wandel nicht ebenso berechtigt wie Stabilität? Ist Durchsetzungskraft für eine Führungskraft nicht ebenso wichtig wie Einfühlungsvermögen? Sie werden jeweils kaum zögern zuzustimmen. Und ist »Anweisungen befolgen« von Mitarbeitern zu fordern? Zweifellos. Aber ist »unternehmerisch handeln« nicht ebenso zu fordern? Wie aber wollen sie das zusammenbekommen? Und was ist mit Misstrauen – ist es nicht immer dort am Platz, wo Vertrauen Dummheit wäre?
Führung muss immerfort entscheiden zwischen polaren Werten, die beide berechtigt sind (Ausnahme vielleicht: »Grausamkeit« auf der Negativseite). Und das erfordert unausweichlich Kompromisse zwischen den Alternativen. Wenn Sie aber die Zweideutigkeit negieren, sich mithin für einen bestimmten Wert entscheiden, und vor allem: diese Entscheidung explizit machen, springt Ihnen automatisch der Gegen-Wert auf den Tisch. Alltäglich. Denn Entscheidungen haben die unangenehme Eigenschaft, dass die Alternative nicht nur abgelehnt wird, sie wird auch sichtbar. »Jedes ausgesprochene Wort erregt den Gegensinn« (Goethe).
Alle Zustimmung ist also Verneinung. Einer positiven Behauptung steht immer eine negative zur Seite. Oder anders: Wenn Sie einen Wert vorziehen, setzen Sie einen anderen zurück. Kein Wert hat kommunikativen Sinn, wenn er nicht wirklich angibt, was er ausschließt.
In einer Entscheidung wird aus einem Dieses-oder-jenes ein Dieses-und-nicht-jenes. Es ist jetzt klar, dass es da etwas gibt, was nun offiziell diskriminiert ist. Was vorher latent im unentschiedenen Sowohl-als-auch schlummerte, je nach Situation hin- oder heroszillierte und daher in der operativen Hektik kaum auffiel, das wird plötzlich vom grellen Scheinwerferlicht angestrahlt. Und dann wird schlagartig klar, dass Offenheit im Unternehmen nur eingeschränkt möglich ist (weil strenge Vertraulichkeit eben auch wichtig ist); dass man als Führungskraft nicht nur Coach sein kann, sondern auch sich mal von einem Mitarbeiter trennen muss; dass in manchen Bereichen das Misstrauen eindeutig vor dem Vertrauen rangieren muss; und dass eine beim Wort genommene Ehrlichkeit im Unternehmen weder möglich noch human ist. Und wenn eine Gruppe von Individuen überleben will, braucht sie nicht entweder Egoismus oder Altruismus – sie braucht beides. Für alle wird sichtbar: Es könnte auch anders sein. Das Ausgeschlossene kehrt zurück.
Die im oben genannten Unternehmen zuvor impliziten, eher »gelebten« denn bewussten Werte wurden explizit. Und damitwurden sie scharf und absolut. Und einklagbar: Dadurch, dass man nun eine Verlautbarungsebene über die Verhaltensebene geschoben hatte, war ein Vergleich möglich – und den kann kein normaler Mensch gewinnen. Schon bald wurde auch dem Wohlmeinendsten klar, dass so niemand leben kann. Man nestelt halt nicht ungestraft an den Faltungen der Vernunft.
Mit einer Entscheidung für einen Wert wird so getan, als gäbe es keine Kontingenz. Aber man wird die abgelehnte Wert-Alternative nicht los. Sie wird immer heimlich mitkommuniziert. Diese fortlaufende Signalisierung der abgelehnten Alternative beeinträchtigt jedoch die Glaubwürdigkeit der Entscheider: Jeder weiß und spürt, dass auch sie zur Welt gehört und bisweilen sogar vorzuziehen ist. Jeder Mensch im Unternehmen weiß, dass das Geschäftsleben komplex ist, oft widersprüchliche Entscheidungen verlangt und keine Moralanstalt ist. Und dass, realistisch betrachtet, die nunmehr offiziell ausgeschlossene Seite auch oft ihr Gutes hat. Manchmal, wenn wir ehrlich sind, machen wir es ja auch anders. Jetzt aber liegt ein Werteverstoß vor. Den Beobachter beschleicht die vage Ahnung, dass die Trennung eines normativen Gegensatzpaares und die Verabsolutierung sowie Verkündung des Hälftigen von Anfang an
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