Radikal führen
profitabel. Im Gegenteil: Wer zu früh kommt, den bestraft der Trend. Nicht immer, aber wenn, dann heftiger als die Langschläfer. Währenddessen zogen die Wettbewerber davon. Erst dann entschied man sich. Zu spät?
Aus dem therapeutischen Kontext kennen wir die »verpasste Gelegenheit« als Auftakt zur Depression. Obwohl das Nicht-Gelebte ein für alle Mal verborgen bleibt, scheint es doch ein beklagenswertes Schicksal zu sein. Weil die Fantasien das Beste im Abwesenden vorgaukeln. Aber es ist eine untaugliche Denkfigur. Denn vielleicht wäre man ja mit einer anderen Entscheidung noch viel unglücklicher geworden.
Ob eine Entscheidung »richtig« war, wissen Sie letztlich niemals: Es hat noch niemanden gegeben, der in einem Paralleluniversum überprüft hätte, zu welchem Ergebnis eine andere Entscheidung geführt hätte. Sie haben sich gegen eine Alternative entschieden und kennen daher ihre Folgen nicht. Sie können nur wissen, ob Sie danach mit der getroffenen Entscheidung zufrieden sind. Konsequent gedacht können Sie erst nach einer Entscheidung wissen, wie Sie sich entschieden haben. Die Entscheidung wird nämlich heute für die vergegenwärtigte Zukunft gefällt, aber die Bewertung findet morgen in der zukünftigen Gegenwart statt. Das gilt insbesondere – wie manche leidvoll erfahren mussten – auch für Karriere-Entscheidungen. Erst nach einer Entscheidung wissen Sie, was Sie sich da eingebrockt haben. Deshalb werden oft die getroffenen Entscheidungen argumentativ aufwändig gerechtfertigt, die Alternativen abgewertet. Die Psychologie nennt das »postdezisionale Dissonanz-Reduktion«.
Dass man es nicht wissen kann, macht es leicht, eine Entscheidung als »falsch« zu bezeichnen. Von der Tribüne lässt sich leicht »Buh!« rufen. Das ist völlig risikolos, da der Gegenbeweis niemals angetreten werden kann. Was Kollegen gerne veranlasst zu glauben, sie könnten besser entscheiden. Ironisch gewendet: Im Nachhinein weiß jeder besser, was er vorher hätte wissen müssen – jedoch unmöglich wissen kann.
Aber was ist zu entscheiden? Um welche Konflikte geht es?
Zielkonflikte und Wertkonflikte
Ein Straßenbahnfahrer ist mit 70 Personen im Wagen pünktlich unterwegs. An einer Haltestelle hat er die Türen wieder geschlossen, er fährt gerade an, da sieht er in einiger Entfernung eine alte, offenbar gehbehinderte Dame, die sich bemüht, die Bahn noch zuerreichen und deutlich Zeichen gebend ihn zum Warten auffordert. Was soll er tun? Soll er anhalten und auf die Dame warten? Oder soll er 70 Personen pünktlich an ihr Ziel bringen? Wie immer er sich entscheidet, er wird Widerspruch provozieren.
Man darf sich Konflikte, die nach Entscheidungen rufen, nicht immer dramatisch vorstellen. Da gibt es Konflikte als plötzlich auftretende Marktungleichgewichte, die zwar das alte Geschäftsmodell herausfordern, die aber auch ausgenutzt und in betriebswirtschaftliche Vorteile umgemünzt werden können. Da sind Konflikte durch mangelnde Kooperationsbereitschaft von Mitarbeitern, die ihre Egoismen pflegen und nur mühevoll auf eine gemeinsame Problemlösung auszurichten sind. Da gibt es Verteilungs- und Beurteilungskonflikte. Da sind vor allem Zielkonflikte. Jede Führungskraft kennt die Dilemmata, aus denen es keinen gesicherten Ausweg gibt: Zentral oder dezentral organisieren? Global oder lokal? Groß oder klein? Freie Handelsvertreter oder angestellter Außendienst? Langsam ändern oder rasch? Im Inland oder im Ausland produzieren? Diversifizieren oder konzentrieren? Fusionieren oder aus eigener Kraft wachsen? Wachstum oder Umweltschonung?
Im Grunde ist Leben immer Leben im Zielkonflikt. Immerfort muss zwischen verschiedenen Zielen entschieden werden, die nicht gleichzeitig und in gleichem Maße erreichbar sind. Oder aber an den Wegen dorthin scheiden sich die Geister. Immerfort müssen wir entscheiden zwischen Alternativen, die uns beide attraktiv erscheinen, deren Konsequenzen wir aber nicht kennen. Zumindest nicht vollumfänglich. Menschliche Handlungsbedingungen sind halt immer durch Widersprüchlichkeiten, Ungereimtheiten und Unsicherheit gekennzeichnet. Führung lebt in und von diesen Dilemmata.
Sind die Dilemmata eher abstrakt, spricht man besser von »Dualitäten« oder »Ambivalenzen«. So zum Beispiel bei Wertkonflikten.
Wertkonflikte sind komplexer als Zielkonflikte. Zwei Unterschiede sind wesentlich. Erstens: Zielkonflikte müssen entschieden werden; Wertkonflikte können entschieden werden –
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