Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
Vom Netzwerk:
regungslos zugesehen. Als Samson ihn nun anblickte, lächelte der Beamte zum ersten Mal. Langsam griff er mit seiner rechten Hand in die linke Innentasche seiner Jacke und zog das kleine schwarze Diktiergerät heraus. Dann zerbrach er das Diktiergerät in zwei Hälften, öffnete das unvergitterte Schiebefenster links neben seinem Kopf und warf beide Teile im Abstand von zwei Sekunden auf die Straße, wo sie mit einem leisen KlackKlack aufschlugen, nur um im nächsten Moment von Dutzenden Auto- und Lkw-Reifen überrollt zu werden.
    Samson sagte nichts. Er biss sich auf die Unterlippe und hörte auch nicht auf, als er den kupfernen Geschmack von Blut zwischen seinen Zähnen spürte.
    ***
    Seine Mutter war ausgegangen, womit Niklas gerechnet hatte: Es war ihr Bingo-Abend, den sie nur ungerne und so gut wie nie versäumte. Nachdem sie das Haus verlassen hatte, wartete er nicht mehr lange. Alles, was er brauchen würde, hatte er bereits vor Stunden in die Ledertasche gepackt, mit so viel Sorgfalt, wie er aufbringen konnte. Vorsichtig griff er nach der Tasche. Sie war das einzige Andenken an seinen Vater, den er seit sechzehn Jahren nicht mehr gesehen hatte und über den er fast nichts wusste.
    Einmal, ein einziges Mal, hatte seine Mutter ihn überhaupt auch nur erwähnt. Am Heiligabend vor drei Jahren war das gewesen, wie Niklas sich erinnerte. Sie hatte ihm ein Schnapsglas und sich selbst ein Saftglas voll Eierlikör hingestellt und ihm Frohe Weihnachten gewünscht. Sie hatten zusammen auf den Weihnachtsbaum gestarrt, wortlos. Dann hatte sie ihn gefragt: »Niklas, wieso fragst du eigentlich nie nach deinem Vater?«
    Er hatte ihr angesehen, dass es ihr schwerfiel, das Thema anzuschneiden. Diese traurigen Augen, die durch das linkisch aufgetragene Make-up nur noch stumpfer wirkten. Diese zusammengefallene Haltung. Normalerweise brüllten sie und Niklas sich an, es lag nur an Weihnachten, dieser Simulation von Weihnachten, dass sie beide, ohne es laut auszusprechen, einen fragilen Waffenstillstand geschlossen hatten. Und dann diese Frage. Aus heiterem Himmel. Nach all den Jahren, in denen er sich eingeredet hatte, es müsse einen Grund geben, dass man mit ihr über seinen Vater nicht reden konnte. War das denn überhaupt eine Frage? Nein, war es nicht. Sie wollte ihm etwas erzählen, aber er sollte darum betteln, weil sie nicht wusste, wie sie anfangen sollte.
    Er erinnerte sich genau, wie wütend die Frage ihn gemacht hatte. Sie hatte kein Recht, seinen Vater ihm gegenüber zu erwähnen. Er hatte still die Faust geballt, ins Sofakissen geboxt und den Likör in einem Schluck ausgetrunken. Dann war er aufgestanden und hatte in seinem Zimmer einen Joint geraucht, ohne wie sonst darauf zu achten, dass das Fenster geöffnet war und der verräterische Geruch nicht durch die Wohnung waberte. Er hatte seine Mutter schluchzen gehört, oder bildete sich das jedenfalls ein. Aber die Zeiten, in denen er gedacht hatte, dass er auf seine Mutter aufpassen musste, waren da schon lange vorbei. Natürlich wusste er, dass auch sielitt. Dass sie gerne ein normales Gespräch mit ihm geführt hätte. Aber er wollte das nicht. Nicht über seinen Vater. Seinen Vater, über den er gar nichts wissen wollte , weil er dann bestimmt nicht mehr so wäre wie der Vater, mit dem er seine Kindheit hindurch abends manchmal halblaut gesprochen hatte. Oder wie der Vater, mit dem er zwar jetzt nicht mehr im Halbdunkel redete, von dem er sich aber ein Bild gemacht hatte – eines, mit dem er leben konnte, und das er sich nicht kaputt machen lassen wollte von Tatsachen oder von dem, was seine Mutter dafür ausgeben würde.
    Beruhigt spürte Niklas, wie die Tasche sich an seine Hüfte schmiegte, nach Jahren des Gebrauchs seinen eigenen Konturen angepasst. Die Tasche war aus dunklem, dicken Leder und sehr abgegriffen. Trotzdem hatte sie sich einen gewissen Anschein von Exklusivität bewahrt. Es war eine gute Tasche. Niemand hatte sich je darüber lustig gemacht, dass er sie mit in die Schule nahm. Natürlich würde er sie auch jetzt mitnehmen.
    Die Fahrt dauerte über eine Stunde, zuerst mit der S-Bahn zur Friedrichstraße, dann von dort mit der Regionalbahn bis nach Dallgow-Döberitz. Dallgow-Döberitz war das erste Kaff hinter der Stadtgrenze bei Spandau. Während der Fahrt sah er aus dem Fenster. Als sie ankamen, stiegen fünf weitere Personen an dem Provinzbahnhof aus, vier Männer und eine Frau. Er verließ den winzigen Bahnhof mit ihnen. Doch während die

Weitere Kostenlose Bücher